soziologieheute-news

30. September 2016

The Utopian Paradigm – das utopische Paradigma

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 13:36

Fach- und subjektgeschichtliche Erinnerung
von Richard Albrecht

In this essay the author, a West German social scientist who is basically interested in futurology, tries to travel the road from
sociology of future to future of sociology. First of all the author gives an overview on the basic, and original, idea the German
social philosopher Ernst Bloch (b. 1885, d. 1977) sketched to overcome traditional logic by visioning a social world full of contradictions
and structurally open to different developments of the future. The genuine theory aims another different approach of focusing multidimensional structuring
of historical and societal situations, both given by the very simultaneity f the nonsimultaneous and the non-simultaneity of the simultaneous in every socio- historical
time. Looking on social tendencies in this manner might help social scientists making things which are still invisible progressively more and more visible. Given a rapidly changing social
world in all Western societies, the actual societal situation is structurally fluctuating and floating. More than ever before in history, the advanced Western societies
within a permanently westernized new ´one world´ will bear enormous fl uctuating processes, forming another civilization based upon subjectivity, refl exiveness,
responsiveness, and interpretation. All of this incorporated in the very present, but also foreshadowing a new social order by an overall “mental surplus” fluctuating at
the very backstage of every society.
*
Der Autor dieses Aufsatzes versucht in Form eines neuen Paradigmas eine alternative Perspektive für alle, die an zukünftiger kultur- und sozisozialwissenschaftlicher
Forschung als sozial- und kulturwissenschaftlicher Zukunftsforschung interessiert sind, zu entwickeln.
Zunächst geht es um die Aufarbeitung der so grundlegenden wie originellen Vorstellungen des deutschen Sozialphilosophen Ernst Bloch (1885-1977).
Ernst Bloch wollte mit Hilfe einer mehrwertigen dialektischen Logik einerseits die traditionelle Aristotelische Logik überwinden und andererseits
eine soziale Welt vorstellen, die voller Widersprüche zwischen Altem und Neuem, Gestern und Morgen, Nicht- Mehr- und Noch-Nicht-Sein existiert:
Eine soziale Welt in ständiger Veränderung und damit grundsätzlich offen für verschiedene zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten. Die theoretischen Überlegungen Ernst
Blochs erfordern, meint Richard Albrecht, einen anderen und differenzierteren wissenschaftlichen Zugriff zur mehrdimensionalen konzeptionellen
Strukturierung gesellschaftlicher Prozesse und aller geschichtlich-gesellschaftlichen Lagen und Zeiten. Es geht um die grundlegende Vorstellung von
konkret-historisch immer gegebener, empirisch sowohl offen als auch verdeckt vorkommender, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und Ungleichzeitigkeit
des Gleichzeitigen. Dieses komplexe Bild stellt nach Auffassung des Autors einen ernstzunehmenden human-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Näherungsversuch an bisher
weitgehend unsichtbare gesellschaftliche Entwicklungstendenzen dar.

Geht man wie Richard Albrecht davon aus, dass derzeit in allen westlichen Gegenwartsgesellschaften beschleunigte Wandlungs- und Umbruchsprozesse stattfinden, dann erscheint die
aktuelle soziale Welt grundsätzlich veränderbar und zukunftsoffen. Damit ist auch eine neue wissenschaftliche Perspektive für die Zukunft und in der Zukunft möglich und nötig. Es geht
um die Konturen eines neuen, wenn auch derzeit empirisch noch nicht voll ausgebildeten, Zivilisationsmodells als Grundlage einer zunehmend globaler werdenden neuen Welt.
Das künftige ´westliche´ Zivilisationsmodell könnte nach Auffassung des Autors auf vier Grundpfeilern beruhen:
auf Subjektivität, Refl exivität, Responsivität und Interpretativität. Dies sind wesentliche Elemente, die schon heute in den gegenwärtig erfahrbaren Umbruchs- und Wandlungsprozessen
(wenn auch empirisch noch nicht voll entfaltet) angelegt sind und die in den nächsten Jahrzehnten bedeutsamer werden. Jedes neue Zivilisationsmodell meint aber zugleich auch, die mit
dem empirisch immer bedeutsamer bwerdenden ´emotionalen Überschuß´ (Mental Surplus), den es in jeder Gesellschaft gibt, strukturell zusammenhängt. Damit dürfte sich zukünftig
– und zunehmend – auch wieder ein altes menschliches Grundproblem neu stellen: Wie eine gerechte(re) Sozialordnung möglich ist.

[The Utopian Paradigm: A Futurist Perspective;
in: Communications, 16 (1991) 3: 283-
317; Summary – Zusammenfassung: 317/18]

25. Juli 2016

Online-Atlas on the History of Humanitarianism and Human Rights

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 16:40

http://wiki.ieg-mainz.de/ghra/index.php?title=Online_Atlas_on_the_History_of_Humanitarianism_and_Human_Rights

The Online Atlas on the History of Humanitarianism and Human Rights is jointly published by the Leibniz Institute of European History and the Centre for Imperial and Global History at the University of Exeter as part of the Global Humanitarianism Research Academy (GHRA). It is hosted by the Leibniz Institute of European History.
The Online Atlas provides readers with concise analytical information on key concepts, events, and people which shaped the development of modern humanitarianism and human rights. The entries of the Online Atlas are written by the successive generations of fellows of the GHRA and other experts connected to the Research Academy.
The entries describe particular historical moment as well as its consequences and wider meanings. Additional materials include a review of scholarly debates, further reading, and visual representations. The Online Atlas addresses a broader public. It is a valuable resource for those engaged in the field of humanitarian action and human rights as well as students and academics. It provides a reliable source of information and access to essential issues of the entangled world of humanitarianism across borders and historical epochs.

HEIDELBERG 1910 BIS 1933

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 15:40

Ruperto Carola – Heidelberg Castle – Lange lieb ich Dich schon – Heidelberg, Du Schöne!

Soziologiegeschichtliches von Richard Albrecht

Vorzustellen ist ein zweites Heidelberg-Lesebuch.1 Das erste erschien vor 30 Jahren als alternatives Erinnerungsbuch2. Das neue hat diesen alternativen Anspruch eher nicht. Es liegt mit seinen 550 Gramm gut in der Hand, ist buchmacherisch gediegen gearbeitet und läßt sich mit der Deutschen Post als Maxibüchersendung für 1.65 € versenden.
Das neue Lesebuch enthält 32 meist befußnotete Porträts, gelegentlich auch weiterführende Literaturhinweise, von 29 Autor(inn)en, diverse meist suboptimimal schwarzweiß reproduzierte Personalfotos und Dokumente. Unter den Porträtierten sind 13, von denen ich bisher wenigstens einen Text las: Alfred Weber, Ernst Toller, Alfred Sohn-Rethel, Golo Mann, Karl Mannheim, Rosa Meyer-Leviné, Emil Lederer, Georg Lukács, Leo Löwenthal, Emil Julius Gumbel, Erich Fromm, Norbert Elias, Hilde Domin; zwei der Genannten lernte ich vor Jahrzehnten auf Autoren- und Wissenschaftlertagungen kennen; über neun weitere der hier Porträtierten veröffentlichte ich mindestens einen Text3: Hannah Arendt, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Jürgen Kuczynski (auch befragt als Zeitzeuge), Carlo Mierendorff, Gustav Radbruch, Anna Seghers, Sergej Tschachotin, Max Weber.
Auch wenn die große-Namen-Tendenz unverkennbar ist, so anerkenne ich, daß an den Nazikritiker, Philosophen und Nationalökonomen Alfred Sohn-Rethel (1899-1900) als damaligen Studie und späteren minor-stream scholar erinnert wird. Und wenn, ebenfalls auf der Ebene von Einzelnem veranschaulichbar, jeder Hinweis fehlt auf den Begründer der soziologischen Chicago-Schule4, Robert Ezra Park (1864-1944), der mit seiner Studie Masse und Publikum. Eine methodologische und soziologische Untersuchung 1903 in Heidelberg promoviert wurde, dann ist das formal wegen der Konzentration auf 1910-1933 in Ordnung – blendet gleichwohl historiographische Grundzusammenhänge des academicus heidelbergiensis im 20. Jahrhundert bis 1933 aus.
*
Zunächst soll an Emil Lederer (*1882 Pilsen, †1939 New York) als böhmisch-austrischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Soziologen und Sozialisten erinnert werden. Er wirkte zwei Jahrzehnte lang, von 1911 bis 1931, in Heidelberg. Carlo Mierendorff (*1897, †1943), der 1923 von ihm mit einer Kritik der Wirtschaftspolitik der KPD zum Dr.phil. promoviert und 1930 SPD-Reichstagsabgeordneter wurde, nannte Lederer „einen der führenden Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie.“5
Lederer wirkte ab Herbst 1914 als verantwortlicher Redakteur des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. In der Zeitschrift ging es im Max Weberschen Sinn um interdisziplinäre und methodisch auf soziales Handeln von Menschen(gruppen) ausgerichtete Sozialwissenschaft. Im Archiv veröffentlichte Lederer seine Soziologie des Weltkrieges mit der These, der Weltkrieg suspendiere die Gesellschaft im Staat durch die gesellschaftliche Dominanz des Organisationsmodell des Heeres.6
Exemplarisch für Lederers so rege wie breite wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Publizistik seiner Heidelberger Zeit seien genannt: Der von ihm edierte Sammelband Soziologische Probleme der Gegenwart (Berlin 1921, 63 p.), die Neuauflage von Die sozialen Organisationen [1914] (Berlin-Leipzig 1922², 130 p.), seine Beiträge Aufgaben einer Kultursoziologie im zweiten Erinnerungsband für Max Weber (1923), Methodenstreit in der Soziologie (in Shakaigaku Zasshi [Zeitschrift für Soziologie] 1925, Probleme des deutschen Parlamentarismus (1930) — und die teilweise mit Jakob Marschak (*1898; †1977), den er 1922 promovierte, gemeinsam im Grundriss der Sozialökonomik 1926/27 veröffentlichten Aufsätze Der neue Mittelstand (Band IX/1: 121-142), Sozialversicherung (IX/2: 320-367), Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen (IX/2: 106-258) und Arbeiterschutz (IX/2: 259-319).
Dies und noch mehr ist im Beitrag über Emil Lederer von Alexandre Métrau (Emil Lederer, ein Heidelberger Anti-Mandarin: 165-169) ausgeblendet. Insofern handelt es sich um kein Porträt. Sondern um eine Marginalie, Miszelle, urkundliche Mitteilung als Kurzbeitrag auf knapp fünf Druckseiten ohne Anmerkungen und genaue Hinweise auf weiterführende Literatur, mit einem Personalphoto, einer Notiz Lederers und, als Novum, einem hier erstveröffentlichten Dokument von 1933 aus dem Universitätsarchiv Heidelberg, deren Mitarbeiterinnen gedankt wird: der Anfang August 1933 an Lederer versandten formalen Bestätigung von dessen Karriere und Funktionen als Hochschullehrer der Ruperto Carola 1912-1931. Die letztbeiden Sätze lauten: Mit Wirkung vom 1. April 1923 wurde er zum planmäßigen ordentliche Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Heidelberg ernannt. Mit Wirkung vom 1. November 1931 wurde er auf Ersuchen aus dem badischen Staatsdienst entlassen.
Amtslakonisch unerwähnt blieb: daß Lederer und Alfred Weber 1923-1931 als Direktoren das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften leiteten, daß Lederer 1931 auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen und daß er dort von den neuen Machthabern im April 1933 zunächst beurlaubt, später entlassen wurde.
Die urkundliche Mitteilung nennt die Exilstationen London und New York. Dort wurde er Hochschullehrer und der erste Dekan der Graduate Faculty der New School for Social Research. Und dort starb er achtundfünfzigjährig Ende Mai 1939.
*
Alfred Sohn-Rethel (*1899 bei Paris, †1990 Bremen) ist ein längerer Beitrag von gut 11 p. mit zwei Personalphotos, dem erstveröffentlichten politischen Text Sozialistischer Bund sowie einer Ansichtskarte gewidmet (Carl Freytag, „Alle Gehalte des Marxismus heidelbergisch verfehlt …“ Der Philosoph und Nationalökonom Alfred Sohn-Rethel in Heidelberg: 321-332). Sohn-Rethel wurde 1928 von Lederer promoviert, konnte freilich zunächst keine Anstellung erhalten und kam schließlich 1931 durch personale Verbindungen in der Deutschen Gruppe des privatwirtschaftlichen Mitteleuropäischen Wirtschaftstags (MWT) in Berlin als wissenschaftliche Hilfskraft unter. Dort verblieb er bis zur Emigration nach England 1936, veröffentlichte anonym eine politiksoziologische Kritik der SPD in Form der (oft grundfalsch als Sozialfaschismustheorie bezeichneten) Grenzgängerthese: Diese wurde Jahrzehnte später in den 1970er Jahren von politischen Linken in der Alt-BRD publiziert, rezipiert und diskutiert.

Im 1973 ersterschienenen, philosophisch-methodologisch anspruchsvollen, sprachlich komplexen Buch Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus7 widersprach Sohn-Rethel der herkömmlichen Agententheorie zum Nationalsozialismus als faschistischer Bewegung in Deutschland. 1933 gelangte Hitler nicht als Förderer der stärksten Gruppen des Finanzkapitals an die Macht, eher vice versa: den faschistischen Nationalsozialismus beförderten finanziell schwächere finanzkapitalistische Gruppen.
Das Buch enthält einen damals kontrovers debattierten Beitrag des Autors8, die in den Deutschen Führerbriefen (September 1932) Soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus. Dieser sollte, so der Autor 1973, zur Stärkung militant-antifaschistischer Kräfte im allgemeinen und zur Unterstützung der KPD im besonderen beitragen. Der Autor bedient sich einer fingierten herrschaftlichen Sichtweise auf Krise und Krisenausweg: er schaut kataskopisch von oben nach unten. Im ersten Teil, Von der Sozialdemokratie zum Nationalsozialismus, geht es um die Entwicklung der Nachkriegszeit bis zum Höhepunkt ihrer Krise im Sommer 1932 mit deflationspolitischen Maßnahmen und Notverordnungen der Minderheitenregierungen seit der Reichskanzlerschaft Heinrich Brünings 1930, im zweiten um Die Eingliederung des Nationalsozialismus in einen sozial rekonsolidierten Kapitalismus.
Grenzgänger bürgerlicher Herrschaft in der ersten Phase der Nachkriegszeit war die SPD. Sie trug zur Bindung nichtbürgerlicher und proletarischer Schichten an bürgerliche Herrschaft bei. Das „über die Wirtschaft verfügende Bürgertum [ist] zu schmal geworden, um seine Herrschaft allein zu tragen.“ Dabei konnte sich die SPD, im Gegensatz zur NSDAP als Bewegungspartei, auf „die Macht der organisierten Arbeiterschaft, die soziale Macht der Gewerkschaften“ stützen.
Wird die erste, Ende 1930 beendete, Konsolidierungsphase von 1923/24 bis 1929/30 als sozialdemokratische Ummünzung der Revolution in Sozialpolitik gekennzeichnet und als eine ihrer notwendigen Bedingungen die „Spaltung der Arbeiterschaft“ genannt, so plädiert der Autor für die Aufhebung dieser durch revolutionäre Transformation. Lösten sich die Gewerkschaften von der SPD und gelänge deren „berufsständische Eingliederung unter nationalsozialistischer Führung“ in den bürgerlichen Staat – dann wäre dies eine Form der „Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft“: Dagegen stünde die „kommunistischen Revolution“. Einen dritten Weg gäbe es nicht. Nach seiner Kritik an Zwangsarbeit, Kommandowirtschaft und Re-Agraisierung plädiert Sohn-Rethel gesamtkapitalkompatibel für den Übergang zum „System wirklicher Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft, das sich nach wie vor auf den Kernbestand der Arbeiterschaft, die Gewerkschaften unter neuer Führung“ stützen müßte.
*
Abgesehen von einleitend angesprochener Ahistorizität fehlen Hinweise auf den auch durch populäre Medien geförderten Mythos Heidelberg, der sich vermutlich, wie an einem anderen Regionalmythos belegt9, auch hier literarisch nachweisen ließe10.
Aus subjektiver Sicht fand ich zwei Porträtbeispiele – Tschachotin und Zuckmayer, über die ich in den 1980er und 1990er Jahren zeit-, politik-, und kulturgeschichtlich forschte und wissenschaftlich veröffentlichte11 – als Steigerung selektiver Wahrnehmung in Form selektiver Ignoranz. Angemessen und informativ hingegen empfand ich Walter Mühlhausens Mierendorffporträt (Der Kampf des Herrn Vielgeschrey um die Republik – Carlo Mierendorffs frühe Warnungen vor dem Nationalsozialismus: 261-275), in dem auch auf meine Forschungsarbeiten aus zwei Jahrzehnten verwiesen wird.12

————————————————

1)Intellektuelle in Heidelberg 1910-1933: Ein Lesebuch. Hg. Markus Bitterolf, Oliver Schlaudt, Stefan Schöbel. Heidelberg: Edition Schöbel, 2015, 428 p., ISBN 978-3-98116366-2-8
2)Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg. Hg. Karin Buselmeier, Dietrich Harth, Christian Jansen. Mannheim: Edition Quadrat, 1985, 512 p.
3)Auswahlbibliographie http://wissenschaftsakademie.net
4)https://de.wikipedia.org/wiki/Chicagoer_Schule_(Soziologie) https://en.wikipedia.org/wiki/Chicago_school_(sociology)
5)Neue Blätter für den Sozialismus, 1 (1930) 8: 347; zeitgenössische Nachrufe von Alvin Johnson in: Social Research, 6 (1939) 3: 313-315; Hans Staudinger, ibid, 7 (1940) 3: 337-358 (The Sociologist); Jakob Marschak, ibid, 8 (1941 1: 79-105 (The Economist); in der Alt-BRD erschienen: Emil Lederer, Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland. Hg. Jürgen Kocka. Göttingen 1979, 310 p.; ders., Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit. Eine Untersuchung der Hindernisse des ökonomischen Wachstums. Nachwort Robert A. Dickler, Frankfurt/M. 1981, 327 p. Emil Lederer, Zur Soziologie des Weltkrieges; in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 39 (1915) 3: 347-384; zur Imperialismustheorie ders., Von der Wissenschaft zur Utopie (Der Sozialismus und das Programm „Mitteleuropa“); in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 7 (1916): 364-411; zur sozialen Typik der Epoche der unselbständig Tätigen mit neuen Lebensperiodisierung ders., Zum sozialpsychologischen Habitus der Gegenwart; in Archiv für Sozialwissenschaft…, 46 (1918/19) 1: 114-139; wieder in: Lederer 1979: 14-33
7)Alfred Sohn-Rethel, Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus. Aufzeichnungen und Analysen. Herausgegeben und eingeleitet von Johannes Agnoli, Bernhard Blanke und Niels Kadritzke. Frankfurt/Main 1973, 209 p.
8)Zuerst wiederveröffentlicht im Kursbuch 21/1970: 17-35; Netzfassung http://www.druckversion.studien-von-zeitfragen.net/Sohn-Rethel%20Rekonsolidierung.htm
9)Richard Albrecht, ´Vater Rhein´: Über einen Fluß als Mythos; in: Kultursoziologie, 12 (2003) I: 125-132; erweiterte Netzversion 2012: http://www.poetenladen.de/richard-albrecht-rhein.php; besonders Mark Twains A Tramp Abroad (1880), Deutsch Bummel durch Europa, dürfte das Heidelbergbild nachhaltig beeinflußt haben: http://www.gutenberg.org/files/119/119-h/119-h.htm
10)https://de.wikipedia.org/wiki/Heidelberg_in_der_Dichtung
11)Richard Albrecht, Symbolkampf in Deutschland 1932; in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 22 (1986) 4: 498-533; ders., … daß Sie Ihre Tätigkeit einstellen müssen“: Die Entlassung Sergej Tschachotins 1933; in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 10 (1987) 2, S. 103-112; ders., Die Symbolwelt der Drei Pfeile; Émile, 1 (1988) 3: 148-179. — Richard Albrecht, Literarische Prominenz in der Weimarer Republik – Carl Zuckmayer; in: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft, 12 (1986) 2/3: 127–135; ders., Carl Zuckmayer im Exil, 1933–1946; in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 14 (1989) I: 165–202; ders., Carl Zuckmayers amerikanische Jahre. Aspekte der Erfolglosigkeit eines erfolgreichen Dramatikers in der Emigration; in: Communications, 20 (1995) 1: 112–128; ders., No Return – Carl Zuckmayers Exil. Aspekte einer neuen Biographie des deutschen Erfolgsdramatikers. Mainz 1995, 72 p.; ders., Hg., Facetten der internationalen Carl-Zuckmayer-Forschung. Beiträge zu Leben – Werk – Praxis. Mainz 1997, 136 p.
12)Richard Albrecht, Der „Fall“ Lenard-Mierendorff 1922; in Ruperto Carola, 38 (1986) 74: 107-114; ders., Der Rhetor Carlo Mierendorff; in: Diskussion Deutsch, 18 (1987) 96: 331-350; ders., Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943. Eine Biografie. Berlin-Bonn 1987, 464 p. (dokumentarfilmische Adaption 1997 von Alfred Jungraithmayr [*1933 †2016]: Deckname Dr. Friedrich: Carlo Mierendorff – ein Leben auf Zeit, Länge etwa 45´; (die „exzellente Werkbiografie des Historiker Karl Heinz Roth“ (20 p.) zu Jungraithmayrs Filmen – so Gerhard Hanloser [junge Welt; 2. Februar 2016: 11] – lag mir nicht vor); ders., Hg., Arisches Kaiserreich oder Judenrepublik von Carlo Mierendorff, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 40 (2004) 3: 321-337

11. Mai 2016

Sascha, der Bewunderte: Von der Pokerpartie in die Wiener Hofburg?

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 14:27

von Hermann Strasser

HIER können Sie den Beitrag downloaden.

Ich lernte meinen lebenslangen Freund Sascha, alias Alexander van der Bellen, in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in Innsbruck kennen, wo ich im Mai 1967 mein Studium der Volkswirtschaft mit der Promotion abschloss. Er war gut zwei Jahre jünger als ich und hatte gerade das Diplom erworben, war schon verheiratet und seit seinem 18. Lebensjahr Vater.

Sascha traf ich zum ersten Mal in der Claudiana, dem Institut für Finanzwissenschaft, ein paar Schritte vom Goldenen Dachl entfernt. Es dauerte nicht lange, und wir sahen uns oft bei ihm zu Hause, wo wir leidenschaftlich gerne Poker spielten. Und da ging schon so manche Nacht drauf, auch wenn die Gewinne und Verluste in wenigen Schillingen und vielen Groschen gezählt wurden. Viel wichtiger war für uns zu erkennen, dass man beim Pokern nicht die Karten, sondern den Gegner ausspielt. Sogar James Bond ist sich dieser Idee in „Casino Royal“ treu geblieben, denn Poker ist kein Glückspiel, sondern Strategie. Auch der Hedgefonds-Chef Steve Cohen, der beschuldigt wird, aus dem Insiderhandel ein Milliardengeschäft gemacht zu haben, hat den Umgang mit Risiken beim Pokern gelernt. Nur er ist reich geworden, wir aber nicht.

Dafür bewunderten Gudrun, meine spätere Frau, und ich Sascha, was er als junger Vater, zusammen mit seiner Frau Brigitte, alles schaffte. Das hielt ihn allerdings nicht von der Feststellung bei einem Besuch meiner Schwiegereltern in West-Berlin Anfang der siebziger Jahre ab, dass er die Rolle des jungen Vaters nicht einmal seinem ärgsten Feind wünschen würde. Ich bin sicher, dass ihm schon damals die Lektion aus seiner Lieblingslektüre, nämlich Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra, weiterhalf, die er auch in seinem jüngsten Buch über Die Kunst der Freiheit zitiert: „… man kann alles, wirklich alles auch anders denken, ganz anders.“

So sehr uns das Pokern Vergnügen bereitete, so viel mehr trieb Sascha und mich damals die Studentenbewegung um. Das hatte auch damit zu tun, weil in Österreich unter den studentischen Gruppierungen viel mehr Allianzen geschmiedet wurden als z. B. in West-Deutschland. Daran waren nicht nur die Linkssozialisten, sondern auch die katholischen Studentenverbindungen CV und KV sowie der Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) beteiligt. Die Studentenbewegung war weder in Innsbruck noch an anderen österreichischen Universitäten nur „links“, wie Sascha auch in seinen Erinnerungen an diese Zeit hervorhebt. Ganz abgesehen davon, war der damalige Verband Sozialistischer Studenten Österreichs (VSStÖ) nicht mit dem westdeutschen SDS zu vergleichen. Schon gar nicht gab es einen rot-weiß-roten Rudi Dutschke.

Dennoch ging es auch in Österreich in so mancher Debatte und bei so manchem Vortrag mit anschließender Diskussion heiß her. Damals tummelten sich auch Jung-Politiker wie der spätere Bundespräsident Heinz Fischer oder der spätere Finanzminister Stefan Koren auf dem Innsbrucker Parkett, letzterer auch als Professor für Wirtschaftswissenschaften zwischen 1965 und 1968. Auf diesem Parkett sah man auch Andreas Khol, der Jura studierte, 1963 promovierte und Mitglied der Studentenverbindung AV Raeto-Bavaria Innsbruck im ÖCV war. 1969 habilitierte er sich beim früheren Innsbrucker Verfassungsrechtler Felix Ermacora an der Universität Wien. Sein schon fast in Strachescher Manier formulierter Aufruf zur „Nächstenliebe“ gegen die „Fernstenliebe“ wird ihn allerdings kaum in präsidiale Höhen hiefen. Da lob ich mir Saschas Botschaft „Heimat braucht Zusammenhalt“. Auch ihm wurde in Tirol Heimat gegeben, die ihn an Österreich glauben ließ und lässt.

So mancher Auftritt eines Politikers veranlasste damals sogar die geheime Staatspolizei einzugreifen, so auch bei einer Podiumsdiskussion im Juni 1968 an der Universität Innsbruck mit Unterrichtsminister Dr. Piffl-Percevic. Als unabhängiger Studentenvertreter stellte ich bei dieser Gelegenheit die Frage nach dem Sinn und den Chancen der Demokratisierung in den Raum, wobei es mir darum ging, Autorität nicht abzuschaffen, aber Herrschaft nicht zu etablieren – für mich ohnehin die entscheidende Fragestellung der 68er. Piffl-Percevic wich den meisten Fragen aus und hampelte mit wenig oder nichtssagenden Details herum. Er hatte große Vorbehalte gegen eine Drittelparität und wandte sich ausdrücklich gegen die Forderung einer öffentlichen Ausschreibung oder den Vorschlag einer zeitlichen Begrenzung von Professorenstellen mit dem Hinweis, dass man auf diese Weise „keine hervorragenden Professoren mehr nach Österreich bekommen“ könnte.

In diesen Vorstellungen unterstützte mich auch Sascha, der im Institut für Finanzwissenschaft die linke Fraktion vertrat und klar zum Ausdruck brachte, dass die Demokratisierung der Hochschule organisiert werden müsste. Als er dort zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft eingestellt wurde, hieß es, „jetzt kommen die Roten“. Im Zusammenhang mit einem anderen Mitarbeiter, Gerhard Ennemoser, beklagte sich unser Doktorvater, Prof. Clemens August Andreae, sogar einmal über die „rote Brut“. In der Tat war Sascha zunächst SPÖ-Mitglied, was ihm für die Übernahme der Führung der österreichischen Grünen in den neunziger Jahren ebenso wenig geschadet hat wie sein wissenschaftlicher Weg als Experte der Gemeinwirtschaft und der Finanzpolitik.

1968 trennten sich unsere Wege, aber unsere Kontakte brachen nicht ab. Ich erhielt ein Fulbright-Stipendium, um an der Fordham University in New York ein Postgraduierten-Studium der Soziologie zu absolvieren. Das letzte Fulbright-Jahr 1971/72 verbrachte ich als Visiting Professor an der University of Oklahoma (OU) in Norman, wo auch unsere Tochter Sandra zur Welt kam. Sascha hatte inzwischen sein Volkswirtschaftsstudium in Innsbruck mit der Promotion erfolgreich abgeschlossen. Neben seiner Assistentenstelle am Institut für Finanzwissenschaft in Innsbruck war er auch als Research Fellow am Wissenschaftszentrum in Berlin tätig. Eines Tages fragte er bei mir brieflich an, ob es eine Möglichkeit gäbe, als Assistenzprofessor an die OU zu kommen.

Leider wurde eine Assistenz-Professur nicht so schnell frei und so setzte er seinen Wissenschaftsweg in Österreich fort. Kaum vorstellbar, dass aus Sascha je ein Oakie geworden wäre. Er schlug einen sehr erfolgreichen Weg in Richtung Wissenschaft und Politik ein, wie ich schon in den siebziger Jahren in Wien beobachten konnte, wo ich am Institut für Höhere Studien (IHS) tätig war. Sein Traumberuf blieb bis heute der des Universitätsprofessors. Dieser erlaubte ihm, zeitlebens einen kritischen Blick auf das „innerösterreichische Gleichgewicht des Schreckens“ zu werfen, wie er es nannte: die schlechteren Lebenschancen für die, die nicht dem herrschenden schwarz-roten Lager angehörten. Aber nicht nur das: Auch „Die Kunst der Freiheit: In Zeiten zunehmender Unfreiheit“ zu üben, wie er sein jüngstes Buch betitelte.

Unsere freundschaftliche Verbindung ist bis heute nicht abgebrochen, so wenig wie seine Verbindung zu seiner zweiten Heimat, dem Kaunertal in Tirol. Für die bevorstehenden Herausforderungen kann ich ihm nur viel Geduld und starke Nerven wünschen, um als Politiker den richtigen Zeitpunkt für Entscheidungen zu wählen und den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Heimat zu bewahren.

Auch wenn die Chancen nicht schlecht stehen, wird es in der Stichwahl am 22. Mai nicht nur auf die Protestwähler ankommen, auch ein beträchtlicher Teil der ÖVP- und insbesondere der SPÖ-Wähler muss sich auf seine Seite schlagen. Alles andere könnte in einer Katastrophe münden und nicht nur zur „Auflösung der Nachkriegsordnung“ führen, wie nach dem 24. April nicht nur Vertreter der FPÖ forderten, um die nach wie vor bestehende Freunderlwirtschaft anzuprangern. Bei den Radikalen ist auch vom „Ende der zweiten Republik“ die Rede.

In diesem Zusammenhang erinnert mich Norbert Hofer an Norbert Burger, den Rechtsradikalen der Innsbrucker Zeit, der u. a. deutschnationalen Burschenschaft Olympia angehörte, dem Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) vorstand und die Trennung Südtirols von Italien mit terroristischen Mitteln betrieb. Hofer wie Burger haben eines gemeinsam: Es geht um die Grenzen der Nation, um Identität, damals Südtirol und Italien, heute Österreich und die Flüchtlinge. Die Freiheit der Grenzen wird zur Gefahr und der Zaun zur Schutzillusion. Sieht und hört man sich Norbert Hofer an, liegt auch ein Vergleich mit Jörg Haider nahe und ein Anflug von Popstarkult ist nicht zu übersehen. In ihm vereinen sich, wie Armin Thurnher, der Chefredakteur der Wochenzeitung Falter, meint, fesch und Faschismus zum „Feschismus“.

Kein Wunder, dass Hofer prophezeite: „Sie werden sich noch wundern, was alles gehen wird.“ Sein Parteichef Heinz-Christian Strache hat ohnehin schon das „neue Zeitalter“ ausgerufen und mit Hofer die österreichische Gesellschaft durch das Schüren ängstlicher Gegenwartsbefindlichkeiten in politische Geiselhaft genommen. Also hoffen wir, dass der 22. Mai nicht zu einem Hofburger Debakel führt, die Demokratie vor Hass bewahrt werden kann und ein Erprobter in Flüchtlingsfragen in die Hofburg kommt!

Der Autor stammt aus Altenmarkt im Pongau, studierte Volkswirtschaft in Innsbruck und Soziologie in New York. Seit 2007 ist er emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Diese und viele andere Innsbrucker Geschichten hat er auch in seiner Autobiografie Die Erschaffung meiner Welt: Von der Sitzküche auf den Lehrstuhl (2. Aufl., Amazon / CreateSapce, 2015) festgehalten.

Fußnoten:
i) Alexander Van der Bellen, Die Kunst der Freiheit – In Zeiten zunehmender Unfreiheit. Wien: Brandstätter, 2015, S. 15.
ii) P. H E., „Harte Studentendiskussion mit Dr. Piffl-Percevic.“ In: Tiroler Tageszeitung vom 12. Juni 1968.
iii) Alexander Van der Bellen, Die Kunst der Freiheit – In Zeiten zunehmender Unfreiheit. Wien: Brandstätter, 2015, S. 48.
iv) Interview mit Armin Thurnher von Alex Rühle, „Feschismus.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 28. April 2016.

13. November 2015

OFFEN – EHRLICH – KONSEQUENT

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 00:31

Subjekthistorischer Nachruf auf den Autor, Filmer, Exulanten und Nonkonformisten Hanuš Burger (1909-1990) und das letzte kurze Jahrhundert*)
von Richard Albrecht

Vorbemerkung – I. Lebensbeschreibungen – II. Autobiographisches – III. An der Westfront – IV. Filmographien – V. Die Todesmühlen – VI. Exkurs zur Exil-Forschung – Anhang

HIER können Sie den Beitrag von Richard Albrecht downloaden.

28. April 2015

„ARMENIERMORD“ Armenozid – Genozid – Völkermordverhinderung

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 10:04

Aspekte politikhistorisch vergleichender Völkermordforschung[1]

von Richard Albrecht

In diesem Text geht es um den bis heute in der Türkei (Türkiye Cumhuriyetiz) tätergesellschaftlich geleugneten spätosmanischen Genozid an den christlichen Armeniern während des Ersten Weltkriegs, dem historisch ersten „großen Weltfest des Todes“ (Thomas Mann). Der Autor diskutiert als Sozialwissenschaftler den ersten staatlich „organisierten und geplanten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ (Edgar Hilsenrath) im geschichtlichen wie im begrifflichen Zusammenhang und spricht zugleich Grundfragen von Erinnerung und Erinnerungsarbeit, Völkermord und Vernichtungsrassismus, Genozidpolitik und Genozidtheorie im 20. Jahrhundert an.

„Musa Dagh“
Der Prager Schriftsteller Franz Werfel (*1890 †1945) schrieb 1919 die Novelle „Nicht der Mörder, der Ermorde-te ist schuldig“. Sie wurde 1920 in einem auf expressionistische Literatur spezialisierten Verlag veröffentlicht[2]. Die griffige Titelmetapher – der Ermordete ist schuldig – wurde im Deutschland der 1920er Jahre so etwas wie ein geflügeltes Wort. Auch heute noch, mehrere Generationen später, könnte es so scheinen, als hätte Franz Werfel seine künstlerische Visionskraft entwickelt, um einen wenig später folgenden Gerichtsprozess – den „Prozess Talaat Pascha“[3]- vorwegzunehmen.
Ein Dutzend Jahre später war es wiederum Franz Werfel, der in künstlerisch-visionärer Zusammenschau den Zusammenhang von Rassismus und Völkermorden sah und ausdrücklich daran erinnerte. Nach Machtübergabe, Machtübernahme und Machtausübung durch den Nationalsozialismus am bzw. seit dem 30. Januar 1933 in Deutschland betonte der Autor in seiner Nachbemerkung zum Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933): Es ginge ihm darum, „das unfaßbare Schicksal des armeni-schen Volkes dem Totenreich allen Geschehenen zu entreißen.“[4]
Dieses doppelte Anliegen des Autors als Künstler drückt sowohl einen zentralen Fluchtpunkt allen Erinnerns aus – etwas nicht im „Totenreich allen Geschehenen“ zu belassen, sondern es diesem zu „entreißen“ – als auch im konkret-historischen ‚Fall‘ „des armenischen Volkes“ während des Ersten Weltkriegs ‚hinten in der Türkei‘ des-sen „unfassbares Schicksal“.

„Armenozid“
Wie Genozid und Holocaust ist auch Armenozid[5] ein Kunstwort. Es ist das deutsche Substantiv des englischen Armenocide. Beide Worte sind von Armenius cidere abgeleitet. Sie meinen den Völkermord im Osmanischen Staat an den Armeniern als religiöser, ethnischer und politischer Minderheit während des Ersten Weltkriegs. Dies war der erste staatliche Völkermord im 20. Jahrhundert. Im Wort finden sich sowohl die Opfergruppe (Armenier) als auch das Mordgeschehen (cidere). Über die Form des Mord(en)s wird, im Gegensatz zum viel bekannteren Begriff und Kunstwort Holocaust (wörtlich: holokaustos im Sinne von völlig verbrannt), im Wort Armenozid nichts ausgesagt. Obwohl doch, beim Wort genommen, im historischen Völkermordgeschehen wäh-rend des Ersten Weltkriegs eher Armenier, zum Beispiel in ihren Kirchen, lebendig verbrannt wurden als später, während des Zweiten Weltkriegs, Juden, die in sogenannten Vernichtungslagern im besetzten Osten „fabrikmä-ßig“ ermordet wurden.
Als Gesamtopferzahl des Armenozid als der „ersten vollständigen ethnischen Säuberung dieses Jahrhunderts“ nennt der Genozidforscher Rudolph Rummel, der diese „düstere Wissenschaft“ staatlichen Terrors“ (Irving Louis Horowitz)[6] unter quantitativ-zahlenmäßigen Vorzeichen von Opferstatistiken betreibt, als gemordete ar-menische Opfer der „genozidartigen Säuberungen der Türkei“ etwa 1.883, also nahezu 1.9 Millionen, Men-schen[7].

„Erinnerungsarbeit“
Den historisch arbeitenden Sozialwissenschaftler, der über politiksoziologische Aspekte vergleichender Völker-mordforschung theoretisch nachdenkt, empirisch forscht und wissenschaftlich publiziert, interessieren hier im Erinnerungskomplex weniger die (gewiss auch wichtige) ethische Dimension von Erinnerungsarbeit. Diese kann, auch im christlichen Sinn, Versöhnung bedeuten. Oder die Aufarbeitung wesentlicher Folgen einer Völkermord und Völkermordleugnung begünstigenden Kultur der Straflosigkeit („culture of impunity“). Hier geht es vielmehr um die – auch erinnerungsrelevante – Dimension möglicher Völkermordverhinderung / Genozidprävention mit Blick auf die nachhaltigen generationsbezogenen und biopolitischen Folgen des wirklichen Ereignisses Genozid. Dabei ist (wie schon beim Musa Dagh-Roman beispielhaft angesprochen) öffentliches Erinnern eine Kernaufgabe von Kunst im allgemeinen und besonders von Erzählkunst in Form von Romanen und Novellen, von Geschichten und Poemen.

„Papierarier“
Der Franz Werfel zugängliche Zusammenhang von Rassismus und einem „Völkermord, den die Jungtürken auf dem Gewissen haben“[8], ist auch deutschen „Armenierfreunden“ nicht verborgen geblieben. Als Christen hatten sie aus ihrer subjektiv empfundenen Mitschuld am Armenozid – dem Völkermord oder Genozid im Osmanischen Staat an den Armeniern als religiöser, ethnischer und politischer Minderheit während des Ersten Weltkriegs – zu lernen versucht: Der damals von Paul Rohrbach und Ewald Stier vertretene Vorstand der Deutsch-Armenischen Gesellschaft konnte mit Schreiben vom 31. Mai 1933 einen Erlass des Reichsinnenministeriums vom 3. Juli 1933 erwirken. Demnach sollten Armenier im Deutschen Reich entsprechend damaliger faschistischer Ideologie und wirksamer rassistischer Praxis nicht als „Semiten“ gelten, sondern als „Arier“. Die Kernaussage des an Stier gerichteten Schreibens vom „Sachverständigen für Rassenforschung beim Reichsminister des Innern“ [31.8.1933] lautete: „Im Sinne des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sind Armenier den Ariern zuzurechnen.“[9]

„Juden des Orients“
In der deutsch(sprachig)en Literatur gab es sowohl ein ambivalentes Armenierbild als auch – und lange schon vor dem nationalsozialistischen Vernichtungsrassismus – die Clichévorstellung vom „Armenier“ als „Juden des Orients“[10].
Das Negativstereotyp vom Armenier propagierte ein bis heute weitverbreiteter deutscher Massenunterhalter. In seiner 1897 veröffentlichten Erzählung Der Kys-Kaptschiji trug Karl May das antiarmenische Stereotyp so vor:
„Ein Jude überlistet zehn Christen; ein Yankee betrügt fünfzig Juden; ein Armenier aber ist hundert Yankees; so sagt man, und ich habe gefunden, daß dies zwar übertrieben ausgedrückt ist, aber doch auf Wahrheit beruht. Man bereise den Orient mit offenen Augen, so wird man mir recht geben. Wo irgendeine Heimtücke, eine Verräterei geplant wird, da ist sicher die Habichtsnase eines Armeniers im Spiele. Wenn selbst der gewissenlose Grieche sich weigert, eine Schurkerei auszuführen, so findet sich ohne Zweifel ein Armenier, welcher bereit ist, den Sündenlohn zu verdienen.“[11]
In Verbindung mit Hinweisen auf wirtschaftliche Vorherrschaft im Orient wurde das antiarmenische Cliché als rabiate Armenophobie in den 1920er Jahren von der jungtürkischen Ideologin Halíde Edíb Adivar (*1884 †1964), einer auch in Deutschland durch ihre Novelle Das neue Turan – ein Frauenschicksal (1916) und ihren Roman Das Flammenhemd (1924) bekanntgewordenen „Starautorin“, propagiert. Was freilich in ihren Büchern Memoirs (1926; ²1972) und The Turkish Ordeal (1928)[12] nur als frühkemalistischer Antiarmenismus erscheint, war – und ist – nichts Anderes als menschen- und lebensfeindliche Ideologie in faschistischer Ausprägung.

„Vernichtungsrassismus“
Hitlers sowohl von böser Judenfeindschaft und panischer Bolschewistenfurcht als auch vom zeitgenössischen, pseudowissenschaftlich-darwinistischen Rassismus geprägtes Weltbild war weder gedanklich originell noch intellektuell entwickelt. Es war im Wesentlichen im Kern eine griffig-starkdeutsche Zusammenfassung des rechten – rechtsextrem(istisch)en – Zeitgeistes.
Als Vertreter einer vermeintlichen Herrenrasse widerkäute auch Hitler, als entschieden wurde, „wer auf dieser Welt leben und über ihre Ressourcen verfügen sollte“ und – so Gerhard Weinberg (1995) weiter – „welche Völker völlig ausgelöscht werden würden, weil die Sieger sie als minderwertig oder störend ansahen“[13], im Rah-men seiner sogenannten „Weltanschauung“[14] das eugenisch-rassistische Stereotyp von „den Armeniern“ und Armenien. Dies zeigen die wenigen von Hitler bei Tisch- und Lagegesprächen überlieferten antiarmenischen Äußerungen. Denen zufolge hat sich Hitler mehrfach über das „nichtarische Blut“ von Armeniern und sein da-raus entwickeltes militärpolitisches Misstrauen gegenüber „den Armeniern“ geäußert[15].

Es bedarf keiner aufwändig-tiefenhermeneutischen Deutung, um zu erkennen: Auch der letzte deutsche Reichs-kanzler (und zugleich erster „mit Migrationshintergrund“) hatte die in Deutschland höchstverbreitete Clichévorstellung vom so gerissenen wie unzuverlässigen Armenier als „Juden des Orients“ verinnerlicht.
In Hitlers 1925/26 erstveröffentlichter zweibändiger personalpolitischer Kampfschrift „Mein Kampf“[16] finden sich keine Hinweise auf „die armenische Frage“, „die Armenier“ und Armenien.
Und doch ist Hitlers antiarmenisches Stereotyp über zwei Jahrzehnte überliefert: Ohne „Lösung der Judenfrage“ würde, so der deutsch-völkische Rassist Hitler 1922, das deutsche Volk ein „Volk wie die Armenier“[17]. Und 1943 soll der faschistische Vernichtungsrassist Hitler in dem ihm eigenen „paranoiden Irrsinn“[18] betont haben: Wenn Völker „sich der Juden nicht erwehrten“, absänken sie so wie das „einst so stolze Volk der Perser, die jetzt als Armenier ein klägliches Dasein führten.“[19]
Menschenfeindliche Verachtung der Armenier und mörderischer Hass auf die Juden einerseits – Bewunderung historischer Machtfiguren wie Dschingis Khan, Lob der Grausamkeit seiner Mongolenheere und türkischer Machtpolitiker des 20. Jahrhunderts wie Enver und Kemal andererseits – das war Hitlers rassistisch bestimmte machtpolitische Ideologie und die sich daraus ergebende mächtige ideologische Politik des nationalsozialisti-schen Vernichtungsrassismus.

„Furchtbare Wahrheit“
Die „furchtbare Wahrheit“ (Georg Glaser) des Zusammenhangs vom Völkermord an den Armeniern in der os-manischen Türkei während des Ersten Weltkriegs und der schon im Frühjahr 1933 beginnenden Judenverfolgung, die 1935 als eine der folgenden Stufen zum späteren Völkermord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs durch die „Nürnberger Rassengesetze“ formalisiert und legalisiert wurde, ist auch zeitgenössischen ausländischen Beobachtern nicht verborgen geblieben.
Den britischen „Commissioner for Migration and Statistics in Palestine“, Eric Mills, erinnerte die deutsche Ras-sengesetzgebung 1935, wie in einem Brief an seinen Dienstvorgesetzten ausgedrückt, an „the elimination of the Armenians from the Turkish Empire.“[20] Und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, im Februar 1939, bewer-tete der Exil-Vorstand der damaligen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE) die Judenverfolgung im ‚Dritten Reichs‘ im historischen Zusammenhang so:
„In Deutschland vollzieht sich gegenwärtig die unaufhaltsame Ausrottung einer Minderheit mit den brutalen Mitteln des Mordes, der Peinigung bis zum Wahnwitz, des Raubes, des Überfalls und der Aushungerung. Was den Armeniern während des Krieges in der Türkei geschah, wird im Dritten Reich langsamer und planmäßiger an den Juden verübt.“[21]

„Genozid“
Was jahrzehntelang „murder of a nation“ (Völkermord) genannt wurde, hat der polnisch-US-amerikanische Völkerrechtler Raphael Lemkin (*1900 †1959) mit dem neuen Wort Genocide 1944 neu definiert:
„Mit ‚Genozid‘ ist die Vernichtung eines Volkes oder einer Volksgruppe gemeint […] Allgemein gesagt, meint Genozid nicht notwendigerweise die sofortige Vernichtung […], sondern soll vielmehr auf einen geordneten Plan verschiedener, aufeinander bezogener Maßnahmen verweisen. Diese zielen ab auf die Vernichtung wesent-licher Lebensgrundlagen von Volksgruppen. Sie sollen die Gruppe selbst zerstören. Zielvorstellungen eines sol-chen Plans wären Auflösung der politischen und sozialen Einrichtungen, der Kultur, der Sprache, der Nationalgefühle, der Religion und der wirtschaftlichen Existenzgrundlage von Volksgruppen sowie die Zerstörung von persönlicher Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Würde und sogar des Lebens der Menschen, die solchen Gruppen angehören. Genozid richtet sich gegen eine Volksgruppe in ihrer Gesamtheit. Die angewandten Maßnahmen be-treffen Individuen nicht als einzelne Menschen, sondern als Mitglieder der Volksgruppe.“[22]
Dabei ist nicht nur das kurzfristige Ziel der Kollektivmorde („annihilating the groups themselves“) und der ihnen unterliegende Vernichtungsplan entscheidend. Sondern, als genozidale Besonderheit, die langfristig-strategische und biopolitisch-intergenerative Wirksamkeit. Diesen Gesichtspunkt hat Lemkin (1944) selbst als über die Gegenwartsaktion(en) hinausweisenden Zukunftspfad definitorisch so herausgearbeitet:

„Genozid eine neue Machttechnik. Sie soll auch dann im Frieden wirksam werden, wenn der Krieg verloren ist.“[23]
Das bedeutet: Wer auch immer den Krieg verliert, kann, biopolitisch, den (von Lemkin „Frieden“ genannten) Nachkrieg über Generationen andauernd gewinnen. Dies ist eine Dimension von Genozid, die Lemkin schon in den 1930er Jahren als Moment des Völkerrechts („ius gentium“) erkannte. Lemkins Hinweis ging nach dem Zweiten Weltkrieg auch ein in den im Dezember 1948 definierten Straftatbestand des internationalen Völker-rechts als UN-„Konvention zur Verhinderung und Bestrafung des Verbrechens Völkermord“ (Convention pour la prévention et la répression du crime de génocide; Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide).

„Holocaust vor dem Holocaust“
Was der jüdische Intellektuelle, US-amerikanische Autor und Friedensnobelpreisträger (1986) Elie Wiesel im Vorwort zur französischen Ausgabe von Franz Werfels Musa Dagh-Roman 1986 als „Holocaust vor dem Holo-caust“[24] bezeichnete, wurde bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA erkannt: In seinem (zuerst 1946 jiddisch veröffentlichten) Aufsatz erinnerte der Publizist Joseph Guttmann 1948 nicht nur an die jungtürkische Völkermordpraxis während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Staat, sondern verglich auch beide Genozide hinsichtlich der jeweils angewandten Hauptmethoden. Guttmann kam zum analytischen Hauptergebnis, dass – idealtypisch – „der Armeniermord“ eher traditionelle Züge primitiven Massenabschlach-tens aufwies, während „der Judenmord“ eher als hochorganisiertes industriell-fabrikmäßiges Massenmorden in Gaskammern auf ‚wissenschaftlicher‘ Grundlage vollzogen wurde.[25]
Damit hat Joseph Guttmann bereits 1946 ein Augenmerk auf die destruktiv angewandten Formen gegenständlicher Produktivkraftentwicklung gelegt und die großindustriell unternommene Massenmordpraxis in den genozidalen Todesfabriken im während des Zweiten Weltkriegs militärisch besetzten Osten als qualitativ neue Einzigartigkeit der NS-Massenmord- und Vernichtungslager begriffen. Die massenhafte Vernichtungspraxis war keineswegs voraussetzungslos. Sie folgte vielmehr im Sinne eines Prozesses vorausgegangenen planvollen staatlichen Mordaktionen gegen (heute Sinti und Roma genannte) „Zigeuner“ und andere als „Asoziale“ oder angebliche „Ballastexistenzen“ oder „unnütze Esser“ 1939/41. Die im Herbst 1941 begonnene Vernichtungspraxis von Millionen Menschen der vorher als ‚objektiver Gegner‘ definierten sozialen Gruppe europäischer Juden überstieg damals das zeitgenössische Vorstellungsvermögen (auch) vieler Deutscher und bereitet (auch) heute noch vielen deutschen Zeitgeschichtlern erhebliche Probleme beim wissenschaftlichen Verstehen des Holocaust genannten Realereignisses Genozid.
„Einzigartigkeit“

Hannah Arendt (*1906 †1975), deren ‚Bibel des Antitotalitarismus‘ (1951) unter dem Titel Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zahlreiche deutsch(sprachig)e Ausgaben und Auflagen erfuhr[26], bemerkte in ihrem 1964 auch deutsch erschienenen Eichmannprozeß-Bericht von der Banalität des Bösen mit Blick auf Genozid als crimen magnum zum Großverbrechen Völkermord zutreffend: „Wenn ein spezifisches Verbrechen erst einmal begangen ist, ist seine Wiederholung wahrscheinlicher, als sein erstes Auftreten je war.“[27]
Dieser unter völkermordverhinderndem Gesichtspunkt oder genozidpräventivem Aspekt wissenschaftsrelevante Hinweis bewahrte die so reflexiv bedeutsame wie argumentativ wirksame politische Philosophin und Intellektuelle jedoch nicht vor ihrer nachhaltigen Ignoranz gegenüber dem ersten staatlich organisierten und geplanten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Dieser „Armeniermord“ wurde von Zeitgenossen als „Murder of a Nation“[28] und als „Vernichtung der armenischen Nation“[29] erkannt und bewertet. Er wird heute als Armenozid oder auch als „Turkish Genocide“[30] und „türkischer Völkermord“[31] an den Armeniern im Osmanischen Staat während des Ersten Weltkriegs (außerhalb der derzeitigen Türkischen Republik Türkiye Cumhuriyeti und ihres insularen Appendix Kuzey Kibris Türk Cumhuriyeti) weltweit staatlich geächtet: Zuerst von Senat und Repräsentanten-haus der Uruguay (20.04.1965), später unter anderen vom US-amerikanischen Repräsentantenhaus (09.04.1975), vom argentinischen Senat (05.05.1993), vom canadischen House of Commons (23.04.1996) und durch einstim-migen Beschluss des Bundestags auch von der Bundesrepublik Deutschland (vom 16.06.2005) anerkannt[32].

Hannah Arendt erinnerte in ihrem Eichmann-Buch 1964 anlässlich des politischen Attentats an den „Armenier Tindelian“ – sie konnte nur ՍողոմոնԹեհլերեան(*1897 †1969; Soghomon Tehlirian, auch: Soromon Tehlerjan) gemeint haben -, „der 1921, mitten in Berlin, Taalat Bey erschoß, den berüchtigten Totschläger in den armenischen Pogromen von 1915, bei denen schätzungsweise ein Drittel (600.000) der armenischen Bevölkerung in der Türkei ermordet wurden“[33]. Sie erinnerte auch daran, dass der Attentäter schon wenige Wochen später in einem aufsehenerregenden öffentlichen Gerichtsprozess freigesprochen wurde. Ihre Hinweise auf den Attentäter und auf die von ihr um etwa zwei Drittel verminderte Gesamtopferzahl der „ersten vollständigen ethnischen Säuberung dieses Jahrhunderts“ mit etwa 1.883 Millionen Menschen als gemordeten armenischen Opfern der „genozidartigen Säuberungen der Türkei“[34], zeigen ein erschütterndes Ausmaß an Nichtwissen und Unkenntnis. Sie verdeutlichen auch einen über alle Einzelheiten hinausgehenden Grundsachverhalt: Ohne historische Vergewisserung besteht immer die Gefahr selektiver Erinnerung in Form eines „ideologischen Gedächtnisses“ (una memoria ideológica) als Gegensatz zum Gedächtnis historischer Zeitzeugenschaft (una memoria histórica, testimonial) im Sinne von Jorgé Semprun (1977)[35].
Dazu führte der Autor dieses Beitrags in seinem Habilitationsvortrag am 1. Februar 1989 zur intergenerativ-biopolitischen Wirksamkeit von Genozidpolitik aus:
„Entgegen der noch immer verbreiteten Behauptung von der Singularität des Völkermords an europäischen Ju-den während des Zweiten Weltkriegs ist einzigartig allein die dem Stand der gegenständlichen Produktivkraft entsprechende fabrikmäßig-industrielle Form des Massenmords durch Gas – vergleichbar hingegen bleibt neben der bereits von Raphael Lemkin erkannten Wirksamkeit von Genozidpolitik über Generationen betroffener Opfergruppen: daß über die Politik des Völkermords mit ihren unwiderruflichen Massenmordfolgen jeweils, im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg, die militärisch unterlegene Täterseite zum biopolitischen Sieger werden konnte. [… Es ist dies] die entscheidende destruktive Wirksamkeit der noch Generationen andauernden Wirkung von Genozidpolitik.“[36]

„unique-uniquess“-Kritik
Die Singularitäts- oder Einzigartigkeitsthese sollte als „unique uniqueness“ so etwas sein wie ein Holocaust-„Alleinstellungsmerkmal“. Sie betraf jahrzehntelang auch das Verhältnis von „Armeniermord“ und „Judenmord“, von Armenozid und Holocaust, als zweier historischer Genozide in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Der Zeitgeschichtler, Politikberater und Publizist Klaus Hildebrand hat sie 1977 zusammenfassend formuliert und dabei nicht nur die Form genozidalen Mordens vor ihren Inhalt gestellt, sondern auch eine in Deutschland sowohl unter Ökonomen als auch unter Zeitgeschichtlern besonders verbreitete ideologische Variante – aus antimarxistischem Ressentiment gespeiste Theoriefeindlichkeit – offenbart:
„Das Entscheidende, das Singuläre der nationalsozialistischen Rassenpolitik aber lag eben in den über jede Funktionalität weit herausreichenden ‚Maßnahmen‘, um in der Sprache des Regimes zu bleiben, des Genocids, der ‚Züchtungsversuche‘ und des Euthanasieprogramms. Sie zu beschreiben und, wenn dies überhaupt jemals möglich sein sollte, begreifbar zu machen, kann sicherlich von keiner der allgemein ausgerichteten ‚Faschis-mus‘-Theorien erwartet werden.“[37]
Die Wirksamkeit der zeitgeschichtlichen Einzigartigkeitsthese ging in Deutschland zeitweilig sogar soweit, so-wohl wissenschaftlich-analytische Vergleiche zu tabuieren – damit letztlich auch vergleichende (Völkermord-) Forschungen zu verhindern – als auch Betroffenenhierarchien und, entsprechend der Wertigkeit: Holocaust – Armenozid, Völkermordopfer erster und zweiter Klasse zu schaffen.
Die sich auf den Holocaust beziehende Einzigartigkeitsthese ist nicht nur sprachlich unsinnig und historisch un-zulässig: Genozid ist auch im Deutschen kein singulare tantum (als nur in der Einzahl verwendetes Hauptwort), sondern als Leitkategorie Oberbegriff verschiedener ‚moderner‘ geschichtlicher Völkermorde im 20. Jahrhundert und damit kein Holocaust-„Alleinstellungsmerkmal“. Die Singularitätsideologie ist darüber hinaus auch wissenschaftsfremd und forschungsblockierend: Wer nach dem Grundsatz definitio per genus proximum et differentiam specificam die Dialektik von Allgemeinem und Besonderen sucht, die Mühen der Ebenen nicht scheut und wissenschaftliches Wissen schaffen will, muss im Sinne jedes Wissenschaftsverständnisses erst einmal die Voraus-setzungen schaffen, um Staatsverbrechen als Formen historischer Wirklichkeiten vergleichen zu können. Der Holocaust oder Shoah (seltener Judeozid) genannte Völkermord oder Genozid an den europäischen Juden wäh-rend des Zweiten Weltkriegs im militärisch besetzten Osten war aber weder voraussetzungslos noch einzigartig. Die massenhafte Vernichtungspraxis angeblich „lebensunwerten Lebens“ folgte vielmehr im Sinne eines Prozesses vorausgegangenen planvollen staatlichen Mordaktionen:
„Zwangssterilisation, Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Kinder in Krankenhäusern, Tötung erwachsener Anstaltsinsassen durch Gas in medizinischen Tötungszentren (Euthanasie), Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Insassen von Konzentrationslagern und schließlich die Massenmorde an den Juden.“[38]

Einzigartig war nicht der 1941-1945 „staatlich organisierte Völkermord“[39] an sich und als solcher. Singulär waren vielmehr die destruktiv angewandten Formen gegenständlicher Produktivkraftentwicklung und die staatsbürokratische Organisation zur großindustriell unternommener Massenmordpraxis in den genozidalen Todesfabriken im während des Zweiten Weltkriegs militärisch besetzten Osten als qualitativ neue Momente nationalsozialistischer Massenmord- und Völkermordpolitik.

„Genozidtheorie“
Micha Brumlik, damals Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt am Main, hat 2004 versucht, den geschichtlichen Ort des „jungtürkischen Massenmords an den Armeniern“ unter völkermordtheoretischen Aspekten genauer zu bestimmen. Brumlik anerkannte das, was „zunächst lediglich als eines in der Reihe der vielen Massaker galt, die Osmanische Herrscher immer wieder an ihren armenischen Untertanen begangen haben, bis heute zum Paradigma dessen werden [sollte], was als ‚Genozid‘ gilt, weshalb es sowohl für die gesamteuropäi-sche als auch für die globale Entwicklung einer historisch sensiblen Gedenkkultur von höchster Bedeutung ist, daß die kemalistische Türkei […] diesen Genozid bis heute nicht anerkannt und – mehr noch – all jene, die ihn na-tional und international anerkennen, unterschiedlich sanktioniert. In der Auseinandersetzung um den jungtürkischen Genozid an den Armeniern lassen sich bis heute sämtliche Probleme und Konfliktfelder, die mit dem Begriff [Genozid] verbunden sind, identifizieren: die Frage nämlich, ob ein derartiges geplantes Verbrechen über-haupt nachweisbar ist – sowohl was seinen Umfang als auch was die unterstellte genozidale Intentionalität betrifft.“[40]
Brumlik arbeitete weiter heraus, dass es einerseits eine „kausale Rolle des Krieges für Genozide aller Art“ gibt, dass Genozid andererseits als besondere Form des Massenmords nicht im allgemeinen des Kriegsereignisses mit seinen Massenschlächtereien („mass slaughter“; „wartime atrocities“) aufzulösen ist, dass jedem Völkermorden eine täterentlastende rassistische Ideologie als neues „Muster von Inklusion und Exklusion“ – also Einbezug und Ausgrenzung – unterliegt und dass jede sozialwissenschaftliche Theorie des Völkermord(en)s auch zur „Syste-matik der Genozidverhütung“ beizutragen hat. Zugleich erkannte der Autor, dass in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung jahrzehntelang als einzigartig und singulär erschien, was in Wirklichkeit als „Judenmord“ (Holocaust, Shoah, seltener Judeozid) in Form des „totalitären Antisemitismus“[41] historischer deutscher Sonderweg war.
So gesehen lesen sich Brumliks Hinweise wie eine späte Anerkennung der 1980 von Irving Horowitz vertretenen These zur Praxis des totalitären Antisemitismus als staatlichem Vernichtungsrassismus: „Genozid gibt es als nationale Politik überall auf der Welt – der Holocaust hingegen war eine besondere und nur von den Nazis ange-wandte Praxis zur Ermordung einer Gesamtbevölkerung.“[42]

Ausblick
Es mag so (gewesen) sein, dass die 1941/42 begonnene großindustrielle Vernichtungspraxis von Millionen Men-schen der vorher als ‚objektiver Gegner‘ definierten sozialen Großgruppe europäischer Juden damals das zeitgenössische Vorstellungsvermögen (auch) vieler Deutscher überstieg und (auch) heute noch vielen deutschen Zeitgeschichtlern erhebliche moralische und intellektuelle Probleme beim wissenschaftlichen Verstehen des Holocaust genannten Realereignisses Genozid bereitet.
Die gleichwohl vertretene Ideologie der Singularität oder Einzigartigkeit war – und ist – nicht gut, sondern schlecht. Sie negiert auch erste Ergebnisse einer verhältnismäßig jungen Forschungsperspektive: der comparative genocidal research oder international vergleichenden Völkermordforschung[43]. Ihr geht es auch da-rum, den elenden Status rivalisierender Genozidbetroffenen- und -opfergruppen der Kollektivmorde zu überwin-den. Denn dieser ist überwindbar und wird auch zunehmend überwunden. Und das ist auch nur gut so. Denn – um einen Hinweis Hannah Arendts aufzunehmen – wenn Vergangenheitserfahrung als Zukunftsaufgabe im Sinne von Völkermordverhinderung und Genozidprävention verstanden und wie beim US-amerikanischen Genozidforscher Irving Louis Horowitz (1976) als „saving-lives“-policy – Politik des Leben-Rettens – auf universale und unteilbare Menschenrechte bezogen wird – dann gibt es, so Hannah Arendt (1949) – in letzter Konsequenz nur ein „einziges Menschenrecht“: Das unveräußerliche „Recht, Rechte zu haben“[44] und als das in der Bundesrepublik Deutschland anerkannte Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit[45]. Das Recht auf Leben ist, mit Hannah Arendt, der materielle Kern des Menschenrechts, Rechte zu haben. Oder, mit Heinrich Heine, der in seinem Textfragment über verschiedenartige Geschichtsauffassungen (1832/34) das Leben selbst als Recht[46]- auch auf revolutionäre Prozesse – erkannte: „Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht.“

Anhang[47]
Entwicklung eines Frühwarnsystems gegen Völkermordtendenzen. Eine Pilotstudie zu einem unbearbeiteten Grundproblem einer kultur-, sozial- und politikwissenschaftlichen Friedensforschung. (Conceptualizing an Early Warning System Against Genocide.A pilot-study facing the basic problem of peace-research with special regard to cultural, social, and political aspects.)
Das hiermit beantragte Forschungsprojekt soll den von mir in Form von ‚gratiser Privatarbeit‘ in den letzten Jahren aufgearbeiteten Pfad der internationalen fortschrittlichen Forschungsliteratur weitergehen und versuchen, das, was bisher nur eingefordert ist, in Form eines systematischen Konzepts einzulösen. Ein Frühwarnsystem gegen Völkermordtendenzen soll aus vergleichender Sicht aus historischen Völkermord-prozessen- vor allem der Völkermordpolitik des jungtürkischen Regimes und des nationalsozialistischen Faschismus – entwickelt werden und, bevor diese besondere und besonders destruktive Form von Ausrottungs-, Massenmord- und Vernichtungspolitik wirksam werden kann, wesentliche Elemente eines Völkermordsystems identifizieren (wie ich es schon versucht habe am Beispiel der politischen Ideologie des ‚objektiven Gegners‘ im Anschluss an Hannah Arendt). Es geht damit um einen interdisziplinären Zugriffsversuch zunächst auf ein Milieu, in dem sich Völkermordtendenzen entwickeln können („genocidal milieux“), bevor diese als Völkermord-prozesse gesellschaftlich dominant und politisch wirksam werden können und dann eine Völkermordgesellschaft („genocidal society“) konstituieren. Meine Kernthese: bevor Völkermordpolitik als besondere Form eines Menschheits- und Staatsverbrechens exe-kutiert wird, muss es im gesellschaftlichen Milieu und besonders in der sozialmoralischen Verfasstheit einer Gesellschaft schon Hinweise auf diese politisch-historisch destruktivsten Prozesse als (wenn auch zunächst verborgene) Tendenzen geben. Diese dürften sich heute- in entwickelten Industriegesellschaften – vor allem in Gestalt von militanten/gewaltsamen Rücknahmeversuchen zivilisatorisch-kultureller Errungenschaften zeigen und den bürokratischen Staatsapparat politisch zur Auflösung eines an sich möglichen humanen Grundconsens einer Gesellschaft instrumentalisieren/vernutzen (und insofern technokratisch-instrumentell werden: darauf haben nicht zuletzt G. Anders und R. Jungk aufmerksam gemacht …) Diese Tendenzen können – müssen aber nicht – populis-tisch daherkommen und/oder plebiszitär ‚von unten‘ abgestützt werden. Ein entscheidendes Moment – scheint mir bei meinem derzeitigen Kenntnisstand – der Durchsetzung dieser Völkermordtendenzen ist nicht diese oder jene Einzelheit (Ethnozentrismus, Rassismus etc.), sondern ein tiefgreifender sozialmoralischer Enttabuierungsprozess auf der Grundlage von Auflösungserscheinungen, die wiederum wirtschaftlich, sozial, kulturell und ideologisch auf Ungleichheit(en) beruhen. Hier nun gilt es, endlich ein Frühwarnsystem, das diesen Namen verdient, zu entwickeln, damit Völkermordtendenzen und Völkermordprozesse eingehender identifiziert und bereits im Vorfeld späterer staatlich beförderter Destruktions- und Vernichtungspolitik- damit auch: vor von entsprechenden sozialen Trägergruppen und Völkermordprofiteuren organisierter politischer Wirksamkeit durch staatliches Handeln – aktiv verhindert werden können – weil diese besondere Politik des Völkermords als Mittel der Politik und politischen Handelns überhaupt verhindert werden muss.
Als Antragsteller und Bearbeiter dieses Pilotprojekts habe ich in doppelter Weise vorgearbeitet – ohne dafür bisher aus öffentlichen Mitteln unterstützt worden zu sein: erstens habe ich inzwischen den internationalen Forschungsstand, insbesondere der Diskussion in den USA und Israel, so systematisch aufgearbeitet wie kritisch kommentiert (eine erweiterte Druckfassung meines Habilitationsvortrags [1.2.1989] befindet sich im Druck, cf. Sociologia Internationalis, 1/1989). Zweitens habe ich 1982-1986 mein Konzept des Zugangs zur ‚versteckten Gesellschaft‘ am Beispiel einer politischen Soziologie von Witzen zu erproben versucht (mein Sammelband mit den entsprechenden Beiträgen erscheint dieserwochen). Und darüber hinaus habe ich als individueller Forscher durch meine beiden letzten großen Bücher 1987 und 1988 bewiesen, dass ich bereit und in der Lage bin, neue Themenstellungen und Sichtweisen produktiv zu entwickeln.

Fußnoten:
[1] Erstdruck der Ansprache des Autors am „Gedenktag für die Opfer des Genozids an den Armeniern“, 24. April 2009, vor der Armenischen Gemeinde zu Köln. Der Vortrag wurde zum Druck gering erweitert und um Anmerkungen ergänzt.
[2] Franz Werfel (1920), Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Eine Novelle (München: Kurt Wolff, 269 p.).
[3] Der Prozess Talaat Pascha (1921). Stenographischer Bericht […], m. e.Vorwort von Armin T. Wegner und einem Anhang (Berlin: Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, 136 p.); Neuauflage, m. e. Vorwort von Tessa Hofmann (1985), Göttingen: Gesellschaft für bedrohte Völker, XI/136 p. (= reihe progrom); Rolf Hosfeld (2005), Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 351 p.), hier 13-31.
[4] Franz Werfel ([1933]; ²1959; ³1985), Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman (Frankfurt/Main: S. Fischer, 808 p. [= Ge-sammelte Werke]); zum Roman und seiner Wirkungsgeschichte: George Schulz-Berend, Sources and Background of Werfel’s Novel […]; in: Germanic Review, 26 [1951] 2: 111-123; Artem Ohandjanian, „Diese Sucht, zu erniedrigen…“ Über Franz Werfel und seinen Roman […]; in: die horen, 35 (1990) 160: 158-163.
[5] Richard Albrecht, Murder(ing) People. Genocidal Policy Within 20th Century – Description, Analysis, and Prevention: Armenocide, Serbocide, Holocaust As Basic Genocidal Events During the World Wars; in: Brukenthalia, 2 (2012): 168-185; ders., «nous voulons une Arménie sans Arméniens» Drei Jahrzehnte Armenierbilder in kolonial-imperialistischen und totalitär-faschistischen Diskursen in Deutschland, 1913–1943; in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, 106 (2012): 625-661.
[6]Irving Louis Horowitz, Counting Bodies: the Dismal Science of Authorized Terror; in: Patterns of Prejudice, 23 (1989) 2: 4-15.
[7] Rudolph J. Rummel (2003), ‚DEMOZID‘ der befohlene Tod. Massenmorde im 20. Jahrhundert. Vorworte von Yehuda Bauer [und] Irving Louis Horowitz (Münster-Hamburg-London: LIT, xxiii/383 p. [= Macht und Gesellschaft 1]), hier 177-202; ders. (1998), Statistics of Genocide. Genocide and Mass Murder since 1900 (Münster: LIT, ix/527 p. [= Macht und Ge-sellschaft 2]), hier 78-101.
[8] Johannes Lepsius, Mein Besuch in Konstantinopel Juli/Aug. 1915; in: Orient. Monatsschrift für die Wiedergeburt des Ostens (Hg. Johannes Lepsius), 1 (1919) 1-3: 21-33.
[9] Zitiert nach Mitteilungsblatt der Deutsch-Armenischen Gesellschaft e. V. (Berlin), 2.1938: 32; in den folgenden Heften ähnliche Hinweise; Rohrbach erinnerte auch später udT. „Der Orient in Bewegung“ (10.1940: 129-132) und udT. „Armenier und Armenien“ (15/16.1943: 193-197) an die 1915 in Konstantinopel begonnene „radikale Ausrottung der Armenier“ mit „anderthalb Millionen“ Opfern während des Ersten Weltkriegs.
[10]Zitiert nach Mitteilungsblatt der Deutsch-Armenischen Gesellschaft e. V. (Berlin), 2.1938: 32; in den folgenden Heften ähnliche Hinweise; Rohrbach erinnerte auch später udT. „Der Orient in Bewegung“ (10.1940: 129-132) und udT. „Armenier und Armenien“ (15/16.1943: 193-197) an die 1915 in Konstantinopel begonnene „radikale Ausrottung der Armenier“ mit „anderthalb Millionen“ Opfern während des Ersten Weltkriegs.
[11]Zitiert nach Dominik J. Schaller (2002), Genozid, Historisierung & Rezeption. Was kann die Analyse der Re-zeption des Völkermordes an den Armeniern 1915 in Deutschland während der Jahre 1915-1945 zum Verständnis der Shoah beitragen? In: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah (Hg., Hans-Lukas Kieser/Dominik J. Schaller. Zürich: Chronos); onli-ne-Version: http://www.hist.net/kieser/aghet/Essays/EssaySchaller.html
[12]Halidé Edíb, Memoirs (1926); (Reprint 1972: New York: Arno Press, vii/472 p. [= World Affairs]); dies. (1928), The Turkish Ordeal (London: John Murray, ix/407 p.).
[13]Gerhard L. Weinberg (1995), Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkrieg (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1174 p.), zitiert 16; zum 1928 in Hannover geborenen Autor vgl. das Wissenschaftlerporträt von Hans-Heinrich Nolte, Weltkrieg als Weltgeschichte: Gerhard Weinberg, in: Zeitschrift für Weltgeschichte, 2 (2001) 2: 137-144.
[14]Christian Geulen (2007), Geschichte des Rassismus (München: C. H. Beck [= wissen/sr 2424], 128 p.), hier 97/98; zu Hit-lers „Weltanschauung“ zusammenfassend: Marlis Steinert (1991), Hitler (Paris: Libraire Arthème Fayard, 710 p.), hier 166-211.
[15]Henry Picker (³1976), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier: mit bisher unbekannten Selbstzeugnis-sen Adolf Hitlers, Abbildungen, Augenzeugenberichten und Erläuterungen des Autors […] (Stuttgart: Seewald [Neuausgabe], 548 p. [5.7.1942]); Werner Jochmann (²1980, Hg.), Adolf Hitler. Monologe im Führerhauptquar-tier 1941-1944. Die Aufzeichnun-gen von Heinrich Heims (Hamburg: Albrecht Knaus, 496 p.), hier 136/137 [12.11.1941] und 370 [28.8.1942]; Helmut Heiber (Hg., 1962), Hitlers Lagebesprechungen. Die Protokollfragmente seiner militärischen Konferenzen 1942-1945 (Stuttgart: DVA, 971 p. [= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 10]): hier 12.12.1942.
[16]Adolf Hitler (1939), Mein Kampf. Jubiläumsausgabe (München: Zentralverlag der NSDAP Fr. Eher Nachf., 705/XXIX p.); ders. (1941), Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. (München: Eher, 641.-645. Auflage, 782 p.).
[17]Eberhard Jäckel; Axel Kuhn (1980, Hg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924 (Stuttgart: DVA, 1315 p. [= Quel-len und Darstellungen zur Zeitgeschichte 21]), hier 557 [Dezember 1922].
[18]Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler ([1978] ²1993) (Frankfurt/Main: S. Fischer, 158 p.), hier 94; zur Hitler-„Karriere“ auch Richard Albrecht (2007), „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Adolf Hitlers Geheim-rede am 22. August 1939 (Aachen: Shaker, 104 p. [= Genozidpolitik im 20. Jahrhundert 3], 104 p.), hier 5-8; 93-94 [Vor- und Nachwort].
[19]Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg, 14. No-vember 1945 bis 1. Oktober 1946; Band 2: 428.
[20]Martin Gilbert (1986), The Holocaust. A History of the Jews of Europe during the Second World War (New York: Holt, Reinehart & Winston, 959 p.), Zitat 48/49.
[21]Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 6. Jg. 1939, Nr. 2 [Februar 1939], A 78: Die Judenverfolgungen; zum historischen Gesamtzusammenhang Mark Levene, Why Is the Twenteeth Century the Century of Genocide ? in: Journal of World History, 11 (2000) 2: 305-336; deutsch(sprachig)e Version in: Zeitschrift für Weltgeschichte, 11 (2004) 2: 9-37.
[22]Raphael Lemkin (1944), Axis Rule in Occupied Europe; foreword George A. Finch (Washington [D.C.]: Carnegy En-dowment for International Peace Division of International Law, xxxviii/674 p.), hier ix: Genocide, 79-95, Zitat 79. Lemkin-Übersetzung(en) Autor).
[23]Ibid, 81.
[24]Franz Werfel (1986), Les Quarante jours de Musa Dagh; traduit de l’allemand par Paul Hofer-Bury; préface de Pierre Be-noît et Elie Wiesel (Paris: Ed. Albin Michel [=Collection Les Grandes Traductions], 701 p.).
[25]Joseph Guttmann (1948), The Beginning of Genocide. A Brief Account on the Armenian Massacres in the World War I (New York , 19 p.); zuerst in: Yivobleter [New York], 28 (1946) 2: 239-253; ähnlich später Dr. Helmut Kohl (1987) als amtierender Bundeskanzler: „Das Verbrechen dieses Völkermords [ist] in seiner kalten unmenschlichen Planung und in seiner tödlichen Wirksamkeit in der menschlichen Geschichte einmalig“ (Tischrede [zu Ehren des Präsidenten des Staates Israel, 7.4.1987]; in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressemitteilung 111/97 vom 7.4.1987).
[26]Hannah Arendt, The Origins of Totalitarism [1951]; letzte erweiterte deutsch(sprachige)e Neuausgabe (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (München-Zürich: Piper, 758 p.).
[27]Hannah Arendt (1986), Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Gransow […] (München/Zürich: Piper, Neuausgabe, 358 p.), hier 322.
[28]Arnold J. Toynbee (1917), Armenian Atrocities. The Murder of a Nation […]; erweiterter Nachdruck New York: Tankian, 1975, 127 p.
[29]Johannes Lepsius, Mein Besuch in Konstantinopel Juli/Aug. 1915; in: Orient. Monatsschrift für die Wiedergeburt des Ostens (Hg. Johannes Lepsius), 1 (1919) 1-3: 21-33.
[30]Irving Louis Horowitz, Government Responsibilities to Jews and Armenians: Nazi Holocaust and Turkish Genocide Reconsidered; in: Armenian Review, 39 (1986) 1: 1-9.
[31]Martin Sabrow, Der Kampf der Erinnerungskulturen – Völkermorde als historiografische Herausforderung; in: ders. u. a. (2005), Völkermorde und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert als Thema schulischen Unterrichts (Ludwigsfel-der-Struveshof: LISUM Bbg, 103 p.), hier 81-88.
[32]Eine aktuelle Liste der den Armenozid formell anerkennenden Staaten findet sich im wikipedia-Netz: http://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_an_den_Armeniern#Bewertung_durch_die_Staatengemeinschaft
[33]Arendt, Eichmann in Jerusalem, hier 314/315.
[34]Rummel, ‚DEMOZID‘: 177-202; Statistics of Genocide: 78-101.
[35]Jorgé Semprún (1977), Autobiografía de Federico Sánchez. Novela (Barcelona: Ed.Planeta, 347 p.), hier 240-241.
[36]Richard Albrecht, Die politische Ideologie des objektiven Gegners und die ideologische Politik des Völkermords im 20. Jahrhundert. Prolegomena zu einer politischen Soziologie des Genozid nach Hannah Arendt; in: Sociologia Internationalis, 27 (1989) I: 57-88.
[37]Klaus Hildebrand (1977); in: Manfred Bosch (Hg.), Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestands-aufnahme und didaktische Implikationen (Düsseldorf: Schwann, 175 p. [= Geschichtsdidaktik 1]): 55-61.
[38]Bernd Jürgen Wendt (2006), Moderner Machbarkeitswahn. Zum Menschenbild des Nationalsozialismus, seinen Wurzeln und Konsequenzen; in: Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. Burghart Schmidt (Hamburg: Wissenschaftlicher Verlag Dokumentation & Buch [= Geistes- und Kulturwissenschaftliche Studien 1]): 157-176.
[39]Arendt, Eichmann in Jerusalem, 321/322.
[40]Micha Brumlik, Zu einer Theorie des Völkermords; in: Zu einer Theorie des Völkermords; in: Blätter für deutsche und in-ternationale Politik, 49 (2004) 8: 923-932; die folgenden Zitate hiernach.
[41]Max Horkheimer; Theodor W. Adorno (1959), Vorwort; in: Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitis-mus […] (Frankfurt/Main: EVA [= Frankfurter Beiträge zur Soziologie 8]): V-VIII.
[42]Irving L. Horowitz (1980), Taking Lives. Genocide and State Power (New Brunswick [N.J.]-London: Transaction Books, xvi/199 p.), hier 16. Horowitz-Übersetzung(en) Autor.
[43]Weiterführend Richard Albrecht, Lebenskultur und Frühwarnsystem: Theoretische Aspekte des Völkermord(en)s; in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 28 (2005) 51: 63-73; ders., Völkermord. Zur Begriffsbestimmung eines Schlagworts; in: Zeitschrift für Weltgeschichte, 13 (2012) 1: 73-76; Irving Louis Horowitz (1976), Taking Lives. Genocide. State Power & Mass Murder (Transaction Books, 80 p.); Genocide and State Power (2002; Transaction Books, 5th, revised ed., foreword Anselm L. Strauss, ivx/447 p.); Genocide and the Reconstruction of Social Theory: Observations on the Exclusivity of Collective Death; in: Armenian Review, 37 (1984) 1: 1-21; Government Responsibilities to Jews and Armenians: Nazi Holocaust and Turkish Genocide Reconsidered; in: Armenian Review, 39 (1986) 1: 1-9; Counting Bodies: the Dismal Science of Authorized Terror; in: Patterns of Precudice, 23 (1989) 2: 4-15; vgl. das Wissenschaftlerporträt von Richard Albrecht, „Leben retten“: Irving Louis Horowitz’ politische Soziologie des Genozid. Bio-bibliographisches Porträt eines Sozialwissenschaftlers; in: Aufklärung und Kritik, 14 (2007) 1: 139-141.
[44]Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht; in: Die Wandlung, 4 (1949): 754-770, hier 761; dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, hier 462.
[45]Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland [Grundrechtekatalog], hier Artikel 2 (2).
[46]Heinrich Heine (1832/34), Verschiedenartige Geschichtsauffassung [Textfragment]; zitiert nach: Werke, Digitale Biblio-thek 7, Berlin 2004 (CD-Rom).
[47]Antrag des Autors auf Forschungsförderung an die Deutsche Forschungsgemeinschaft vom 3. Juli 1989.

http://www.hintergrund-verlag.de/texte-islam-albrecht-richard-armeniermord-armenozid-genozid-voelkermordverhinderung.html

12. März 2015

JUNIUS & GENOSSEN – LENINS KRITIK DER JUNIUS-BROSCHÜRE

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 11:39

Auch ein Beitrag zur Inhalt-Form-Dialektik sozialistischer Publizistik

von Richard Albrecht

Dr.phil.habil. Robert Steigerwald zum Neunzigsten

„Endlich ist in Deutschland illegal, ohne sich nach der niederträchtigen, junkerlichen Zensur zu richten, eine Broschüre erschienen, die sich mit Kriegsfragen befaßt. Der Autor, der augenscheinlich dem „linksradikalen“ Flügel der Partei angehört, unterzeichnete seine Broschüre mit Junius (was lateinisch „der Jüngere“ heißt) und benannte sie: „Die Krise der Sozialdemokratie“. In einem Anhange sind jene „Thesen über die Aufgaben der in-ternationalen Sozialdemokratie“ wiedergegeben, die schon in die Berner I.S.K. (Internationale Sozialistische Kommission) eingebracht worden waren und in Nr. 3 ihres Bulletins wiedergegeben wurde; sie gehören der Gruppe „Internationale“ an, die im Frühjahr 1915 eine Zeitschriftennummer unter diesem Titel herausgab (mit Beiträgen von Clara Zetkin, Mehring, Rosa Luxemburg, Thalheimer, Dunker, Ströbel u. a.) und die im Winter 1915/1916 eine Konferenz von Sozialdemokraten, die diese Thesen angenommen hatten, veranstaltete, an der Delegierte aus allen Teilen Deutschlands teilnahmen.

Die Broschüre wurde im April 1915 geschrieben, wie der Verfasser in seiner Einleitung, die vom 2. Januar da-tiert ist, sagt, und „ohne jede Änderung gedruckt. Ein früheres Erscheinen wurde durch „verschiedene äußere Umstände“ verhindert. Sie befaßt sich weniger mit der „Krise der Sozialdemokratie“, als mit der Analyse des Krieges, mit der Widerlegung der Legende von seinem nationalen Befreiungscharakter, sowie dem Beweis, daß dies ein imperialistischer Krieg ist, sowohl von seiten Deutschlands, als auch von Seiten der anderen Großmäch-te, ferner mit der revolutionären Kritik des Verhalten der offiziellen Partei. Die in äußerst lebhaftem Tone ge-schriebene Broschüre von Junius hat unzweifelhaft im Kampfe gegen die zur Bourgeoisie und zu den Junkern übergegangene Sozialdemokratische Partei Deutschlands eine große Rolle gespielt und eine große Rolle spielen, und wir beglückwünschen den Autor von ganzem Herzen dazu. […]
Junius hat sich nicht völlig vom „Zentrum“ der deutschen, selbst linken Sozialdemokraten freigemacht, die eine Spaltung fürchten und Angst haben, die revolutionären Losungen ganz auszusprechen. […] Das ist eine falsche Furcht, und die linken Sozialdemokraten Deutschlands werden sich davon freimachen müssen, und werden sich auch davon freimachen. Die Entwicklung ihres Kampfes gegen die Sozialchauvinisten wird dazu führen. Sie kämpfen aber entschieden, fest und aufrichtig gegen ihre Sozialchauvinisten […].“ Andererseits wollte Junius etwas in der Art der menschewistischen „Theorie der Stadien“ traurigen Angedenkens verwirklichen, wollte an-fangen, das revolutionäre Programm zu verwirklichen, indem er mit dem „bequemeren“, „populären“, für die Kleinbürger akzeptablen Ende anfing. Es ist etwas ähnliches wie der Plan, „die Geschichte zu überlisten“, die Philister zu überlisten. […]
Es ist wahrscheinlich, daß solche oder ähnliche Erwägungen bewußt oder unbewußt die Taktik Junius‘ bestimm-ten. Daß sie falsch sind, darüber ist nicht zu reden. In der Junius-Broschüre spürt man die Einzelperson, die kei-ne Kameraden in einer illegalen Organisation hat, die gewohnt wäre, revolutionäre Losungen logisch bis zu Ende zu denken und die Massen in ihrem Geiste zu erziehen. Aber ein solcher Mangel – und es wäre ungerecht, das zu vergessen – ist nicht ein persönlicher Mangel von Junius´, sondern das Resultat der Schwäche aller deutschen Linken, die von allen Seiten in das dichte Netz der Kautskyanischen Heuchelei, des Pedantentums und der „Friedensliebe“ den Opportunisten gegenüben verstrickt sind. Die Anhänger von Junius haben es, trotzdem sie vereinzelt dastanden, fertiggebracht, die Herausgabe illegaler Broschüren und Flugblätter zu beginnen und den Kampf gegen das Kautskyanertum aufzunehmen. Sie werden es verstehen, auch weiter auf diesem richtigen We-ge vorwärts zu schreiten.“1

So beginnt – und endet – W.I. Lenins im Herbst 1916 erstveröffentlichte Kritik der 1915 unter den Bedingungen von Ausnahme- und Belagerungszustand, Militärzensur und Illegalität erarbeiteten und veröffentlichten, pseudonym erschienen Junius-Broschüre. Auf diese wurde ich während der Examensphase meines Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Mannheim (WH) im Winter 1970/71 durch Lektüre der SPARTAKUSBRIEFE2 aufmerksam. Den Junius-Text las ich später so-wohl im Original3 als auch in einem in der damaligen DDR publizierten Sammelband mit Beiträgen Rosa Luxemburgs.4 Und auch Lenins im Zusammenhang mit seiner „gemeinverständlich“ gefaßten global-allgemeinen Imperialismus-Theorie5 stehende Junius-Kritik sollte ich in den frühen 1970er Jah-ren im Sammelband GEGEN DEN STROM von Lenin/Sinowjew6 (wenigstens an)gelesen haben … aber wie auch immer: Anlaß zur Erarbeitung dieser Miszelle und meiner neuerlichen Beschäftigung mit Lenin7 war die (mich politisch, ästhetisch und moralisch abstoßende) Welturaufführung des nach Alfred Döblins epochaler Romantrilogie8 montierten Bühnenstücks Karl+Rosa am Bonner Staatsknetetheater Anfang Oktober 2013.9

Daß Lenin einleitend sowohl auf die sozialistischen „Leitsätze“ als auch auf die illegale deutsche Gruppe „Internationale“ positiv verweist und in diesem Zusammenhang auch Rosa Luxemburg na-mentlich nennt, zeigt, daß er über politische Konstellationen innert der deutschen Sozialdemokratie und ihres „linksradikalen“ Flügels, nicht zuletzt als in der „Zimmerwalder Linken“ politisch aktiver Emigrant in Zürch10, wohlinformiert war und das Pseudonym Junius politisch und personell richtig zuordnen konnte. Und doch war es mir mit meinen Mitteln (bisher) nicht möglich, die These: Lenin wußte genau („he knew for sure“), daß „der Autor“ der Junius-Broschüre die Autorin Rosa Luxemburg war, zu bestätigen, genauer: ich konnte (bisher) die Aussage eines bedeutenden britischen Rosa-Luxemburg-Biographen: Lenin war sich 1915/16 über „die Autorenschaft“ der Junius-Broschüre „nicht im Klaren“,11 nicht falsifizieren – auch wenn Lenins Schlußakkord zu Junius´ (nicht nur persön-licher12, sondern) politischer Isolation als „Resultat der Schwäche aller deutschen Linken“ sowohl de-ren organisatorische Mängel offen benennt als auch Rosa Luxemburgs persönliches Schicksal als poli-tische Gefangene des Wilhelminischen Staates während des „ersten großen Schlachtfest des Todes“ (Thomas Mann) reflektiert.

AbbAlbrecht
GEGEN DEN STROM (Sammelband 1921)

Wie zitiert, beginnt Lenins Kritik der Junius-Broschüre mit lobender Anerkennung: daß Junius bei der Analyse des Krieges gegen die Legende seines Befreiungscharakters seine imperialistischen Grundla-ge – und hier entsprechend der Losung: der Hauptfeind-steht-im-eigenen-Land gegen den auch was die Frage der Kriegs“schuld“ betrifft ersten historischen „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer) des Wilhelmischen Deutschland13 – herausarbeite und dabei auch die deutsche Sozialdemokratische Partei kritisierte: „Die Junius-Broschüre ist um großen und ganzen eine ausgezeichnete marxistische Arbeit, und es ist durchaus möglich, daß ihre Mängel bis zu einem gewissen Grade zufälligen Charak-ters sind.“ (416)

Abgesehen von zwei (auch auf mich) schulmeisterlich-belehrend wirkender und so abstrakter wie kur-zer Hinweise Lenins auf methodische Mängel der Junius-Analyse infolge nicht oder „nur halb“ ange-wandter „marxistischer Dialektik“ (419; 412) kritisiert Lenin drei Fehleinschätzungen: einmal als „Hauptmangel der Junius-Broschüre […] das Verschweigen des Zusammenhang des Sozialchauvi-nismus (der Autor gebraucht weder diesen Terminus, noch den weniger genauen Ausdruck Sozialpat-riotismus) mit dem Opportunismus. […] Das ist ein Schritt rückwärts im Vergleich zum historischen Aufsatze von Otto Rühle, der im „Vorwärts“ vom 12. Januar 1916 erschienen ist, wo er frank und frei die Unvermeidlichkeit der Spaltung in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands beweist.“ (416f.) Diese Junius-Kritik schließt an die vermutlich von Lenin formulierte „Prinzipienerklärung“ des Zentralkomitée der S.D.A.P.R Russlands (Bolschewiki) von 1915 („Der Weltkrieg und die Aufgaben der Sozialdemokratie“) an, in der es hieß: „Der Sozialpatriotismus, auf dessen Standpunkt in Deutsch-land sowohl die offen patriotische Mehrheit der früher sozialdemokratischen Führer wie auch das sich oppositionell gebärdende Zentrum der Partei um KAUTSKY steht, […] ist für das Proletariat ein ge-fährlicherer Feind als die bürgerlichen Apostel des Imperialismus, da er, die Flagge des Sozialismus mißbrauchend, die unaufgeklärte Arbeiterschaft irreführen kann. Der rücksichtlose Kampf gegen den Imperialismus (Sozialimperialismus) bildet die erste Vorbedingung zur revolutionären Mobilisation des Proletariats und der Wiederaufrichtung der Internationale.“14
Seine Hauptkritik an Junius verallgemeinert Lenin so: „Der größte Mangel des gesamten revolutionä-ren Marxismus in Deutschland ist das Fehlen einer geschlossenen illegalen Organisation, die system-tisch ihren Weg verfolgte und die Massen im Geiste der neuen Aufgabe erzöge: eine solche Organisa-tion hätte auch dem Opportunismus, sowie dem Kauskyanismus gegenüber eine bestimmte Position einzunehmen.“ (417)

Die zweite Kritikdimension ist die Frage der „nationalen Kriege“. Hier erfährt Junius wohl Lenins Zustimmung – und zugleich dessen Kritik: die „Beurteilung des jetzigen Krieges“ und der „Kampf mit dem Phantom des nationalen Krieges, das die sozialdemokratische Politik gegenwärtig beherrscht“, dürfe nicht „auf alle in einer Zeit des Imperialismus möglichen Kriege“ übertragen werden; ebenso wenig sind „die nationalen Bewegungen gegen den Imperialismus außer acht zu lassen […] Als eine Fortsetzung der nationalen Befreiungspolitik der Kolonien werden ihrerseits nationale Kriege gegen den Imperialismus unvermeidlich sein.“ (419f.) Auch hier verallgemeinert Lenin: „Nationale Kriege gegen die imperialistischen Staaten sind nicht nur möglich und wahrscheinlich, ja, sie sind unvermeid-lich und sowohl progressiv, als auch revolutionär, obgleich natürlich zu ihrem Erfolge entweder die Vereinigung der Anstrengungen einer riesigen Anzahl von Bewohnern der unterdrückten Länder […] erforderlich ist, oder eine besonders günstige Konstellation der internationalen Lage […], oder der gleichzeitige Aufstand des Proletariats in einem der großen Staaten gegen die Bourgeoisie (dieser, in unserer Aufzählung letzte Punkt ist, von Gesichtspunkte des für den Sieg des Proletariates Wün-schenswerten und Vorteilhaften der erste).“ (421f.)
Lenins dritter Kritikpunkt bezieht sich auf „eine andere irrige Erwähnung Junius´“: es geht um die Va-terlandsverteidigung als „politische Kardinalfrage während eines imperialistischen Krieges“ (422) und den damit zusammenhängenden Junius-„Vorschlag, dem imperialistischen Kriege ein nationales Pro-gramm ´gegenüberzustellen´.“ (424) Hier verweist Lenin auf die rückwärtsgewandte Historizität ent-sprechend des Charakters einer „bürgerlich-demokratischen Revolution“ mit „national-bürgerlichem Programm“. Demgegenüber betont Lenin „die objektive Lage“ in den „führenden, größten Staaten Eu-ropas“: hier ginge es „nur in der Richtung nach einer sozialistischen Gesellschaft, einer sozialistischen Revolution“ (424) mit einem „proletarisch-internationalen und sozialistischen Programm“: „Ihr, die Bourgeoisie, führt um des Raubes willen Krieg; wir, die Arbeiter aller kriegsführenden Länder, erkläre euch den Krieg, den Krieg für den Sozialismus – das ist der Inhalt der Rede, mit der die Sozialisten am 4. August 1914 im Parlamente hätten auftreten sollen.“ (426)

Lenins Junius-Kritik ist eingebettet in seine allgemeine Imperialismuskritik in sozialistischer Perspek-tive. In der Junius-Broschüre vermißt der Kritiker sowohl die theoretische als auch und vor allem die praktische Lösung der „Organisationsfrage“ in Form der SPD-unabhängigen und eigenständigen (zu-nächst illegalen) Linksorganisation. Und doch hält der Junius-Kritiker die Differenzen nicht für so ent-scheidend, daß sie nicht in absehbarer Zeit überwunden werden können, erinnert an die 1915/16 auch in Deutschland erfolgte „Herausgabe illegaler Flugblätter und Broschüren“ und klingt aus mit dem op-timistischen Hinweis, daß Junius und Genossen „es verstehen werden, auch weiter auf diesem richti-gen Wege vorwärts zu schreiten […].“ (427)
So gesehen, ist Lenins im Sommer und Herbst 1916 geschriebene und veröffentlichte Kritik der Junius-Broschüre mit ihrem optimistischen Schlußakkord sowohl vom Inhalt her, weil auf Überzeu-gungs- und Lernprozesse setzend15, als auch von der Form her ein Beispiel kritisch-solidarischen Um-gangs in der international ausgerichteten historischen Arbeiterbewegung Europas während des Ersten Weltkriegs.

© Richard Albrech (2015)

Als pdf downloaden: Albrecht LENINS KRITIK DER JUNIUS-BROSCHÜRE 1916

1N. Lenin, Über die Junius-Broschüre [1916]; in: N. Lenin; G. Sinowjew, GEGEN DEN STROM. Aufsätze aus den Jahren 1914-1916. Autorisierte Übersetzung von Dr. Frieda Rubiner. Hamburg: Verlag der Kommunistischen Internationale, 1921, 536 p. [Fotomechanischer Raubdruck o.J., Preis 15 DM]: 415-427 (hiernach alle weiteren Zitate im Text in Klammern); der Netzfassung des Textes entspricht die für die deutschsprachige Lenin-Werkausgabe zahlreich und nachhaltig bearbeitete Ver-sion http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/16-juniu.htm – Nick Brauns Lenin-Porträt in Nekrologform (»Die Ketten, die er angefeilt, zerreißt!« Vor 80 Jahren starb Wladimir Iljitsch Lenin; in: junge Welt, 21.1.2004) steht auf dessen Autorenseite http://www.nikolaus-brauns.de/Lenin.htm
2SPARTAKUSBRIEFE. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland. Mit einer Beilage: Faksimiledruck des Spartakusbriefes No.12 vom Oktober 1918. 1.-20. Tausend. Berlin: Dietz, 1959, XLIII/476 p.
3[Junius]

Richard Albrecht studierte in Kiel und Mannheim als Hochbegabtenstipendiat Sozialwissenschaf-ten von A bis Z (Anglistik, Philosophie, Politikwissenschaft, Sozialpsychologie, Soziologie, Zeitgeschichte), war im SDS ak-tiv und 1968 politischer Referent im AStA der Universität Mannheim (WH). Diplom 1971, Voluntariat 1972/73, Promotion 1976, Habilitation 1988/89. 1972/89 Lehrer, Dozent, Referent und in der empirischen Sozialforschung. Lebt seit seiner Beur-laubung als Privatdozent 1989 als unabhängiger Wissenschaftspublizist, Editor und Autor in Bad Münstereifel. Bisher letzte Buchveröffentlichung 2011: HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren. Bio-Bibliographie -> http://wissenschaftsakademie.net e-Postadresse -> eingreifendes.denken.@gmx.net

ROSA LUXEMBURG UND DIE MALEREI

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 10:55

Historisch-Theoretisches zur Kunstauffassung in der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg
von Wilma Ruth Albrecht

“Indessen, die neue Zeit wird auch eine neue Kunst gebären, die mit ihr selbst in begeistertem Einklang sein wird, die nicht aus der verblichenen Vergangenheit ihre Symbolik zu borgen braucht und die sogar eine neue Technik, die von der seitherigen verschieden, hervorbringen muß. Bis dahin möge, mit Farben und Klängen, die selbsttrunkene Subjektivität, die weltentzügelte Individualität, die gottfreie Persönlichkeit mit all ihrer Lebenslust sich geltend machen, was doch immer ersprießlicher ist als das tote Scheinwesen der alten Kunst.” (Heinrich Heine: 1831)1)

Übersicht
I. Gegen einen ungenannten Parteigenossen II. Malen und Zeichnen III. Künstlerkreise IV. Geschätzte Künstler V. Ignoranz künstlerischer Moderne VI. Ausblick

I.
Als Rosa Luxemburg mit ihrem Artikel “Tolstoi als sozialer Denker”, 1908 erschienen in der “Leipziger Volkszeitung“, in die Tolstoi-Diskussion der sozialdemokratischen Partei eingriff, in der es darum ging, die Lehren des großen russischen Schriftsteller als reaktionär ablehnend (Karl Kautsky) oder revolutionär vereinnahmend (Friedrich Stampfer) zu beurteilen2), positionierte sie sich auch streitbar in der Debatte um visuelle Agitation der Sozialdemokraten und moderne Malerei.
Dabei äußerte sie sich in ihrem “Tolstoi-Artikel” – völlig unvermittelt – abfällig über Max Slevogt (1868-1932) und Ferdinand Hodler (1853-1918). Unter Verweis auf Tolstois Feststellung, dass “die Kunst der höheren Klassen nie die Kunst der ganzen Nation werden” könne, bemerkte sie:
“Der das schrieb, ist in jedem Zoll mehr Sozialist und auch historischer Materialist als jene Parteigenossen, die in der neuerdings aufgekommenen Kunstfexerei machend, mit gedankenloser Geschäftigkeit die sozialdemokratische Arbeiterschaft zum Verständnis für die dekadente Kleckserei eines Slevogt oder eines Hodler ´erziehen` wollen.”3)
Schon zuvor hatte sie sich verständnislos über die Ausstellung der Sezession 1908, auf der Lowis Corinth (1858-1925), Georg Kolbe (1877-1947), Max Pechstein (1881-1955), Max Beckmann (1884-1950) und Max Slevogt (1868-1932) ausstellten, geäußert: “Die Sezession ist ein unbeschreiblicher Dreck.”4)
Max Slevogt und Ferdinand Hodler gehörten beide der Berliner Sezession an, der eine galt als Impressionist, der andere eher als Jugendstilanhänger, bei dem die Linie wieder zum Ausdrucksträger wurde, und beide waren in der neuen bürgerlichen Kunstwelt der Vorkriegszeit anerkannt. Hodler orientierte sich zunächst an Camille Corot (1796-1875) und Gustave Courbet (1819-1877), bevor er zu seinem Stil fand. Auf der Weltausstellung in Paris im Jahre 1900 erlangte er die Goldmedaille. In der Öffentlichkeit wurde er bekannt durch seine für das Landesmuseum in Zürich gemalten monumentalen Historienbilder mit Schweizer Motiven.

1908 erhielt er von der bürgerlichen “Gesellschaft der Kunstfreunde von Weimar und Jena”, eine Gemeinschaft, die den damalig neuen Kunstrichtungen des Expressionismus und des Jugendstils positiv gegenüberstand, anlässlich der 350-Jahr-Feier der Jenaer Universität den Auftrag zu dem Monumentalgemälde “Aufbruch der Jenenser Studenten 1813”, das, weil umstritten, nicht in der Aula sondern an einem Nebenraum gehängt wurde.5) Auch Slevogt fand über den Realisten Gustave Courbet zu seinem Stil und entsprach mit seinen großformatigen Künstlerdarstellungen, besonders mit dem sogenannten “Weißen d`Andrade“ (1902), dem Anspruch des wirtschaftlich erstarkten Großbürgertums sich auch kulturell zu etablieren und Lebensgenuss und individuelle Unabhängigkeit auszudrücken. 1908 malte er seine Seebilder, unter anderem die “Dame am Meer”. Luxemburgs Polemik gegen Slevogt und Hodler steht in keiner inhaltlichen Beziehung zu dem russischen Schriftsteller. Ihre Werke als “dekadente Kleckserei” zu diffamieren, scheint nicht nur von Unverständnis gegenüber der damals zeitgenössischen Kunst zu zeugen sondern auch von einer unangebrachten Vereinnahmung dieser Persönlichkeiten für ihre Polemik gegen “jene Parteigenossen”, die geschäftig das Kunstnarrentum propagierten, aber persönlich nicht genannt werden.
Allerdings dürfte in der sozialdemokratischen Intellektuellenszene Berlins klar gewesen sein, dass Luxemburg mit dieser Äußerung auch und gerade auf ihren Parteigenossen
Eduard Fuchs zielte. Dieser war mit Slevogt befreundet, schätzte dessen Werk, sammelte seine Bilder und Zeichnungen und versuchte ihn zusammen mit anderen zeitgenössischen Künstlern für sozialdemokratische Publikationen zu gewinnen.6) Denn Fuchs war bis 1908 Redakteur der sozialdemokratischen Mai-Zeitungen des „Vorwärts-Verlages“, in denen er Beiträge von Robert Engels (1901), Walter Clane (1901), Max Slevogt (1903), Käthe Kollwitz (1904), Gustav Brandt (1906) und Ilse Schütz-Schur (1907) gedruckt und ausführlich erklärt hatte.7)

Abb1
Abbildung 1: Wir sind die Kraft, 1903 Max Slevogt:
Schlußbild in der Maizeitung des Vorwärts-Verlags 1903.Quelle Ulrich Weitz: Salonkultur
und Proletariat, 1991: 247

So hatte Fuchs über Max Slevogts Kohlezeichnung „Wir sind die Kraft …„, das das Schlussbild der Maizeitung 1903 gab, geschrieben: „Wohl keines unserer Bilder bedarf der Erklärung. Aber in Bezug auf das Schlussbild dürfen für manchen vielleicht doch ein paar Worte angebracht sein. Es gibt gemalten Gefühlssozialismus und gemalte Sittenpredigten. Was uns Max Slevogt, einer der genialsten Könner der modernen ´Rinnsteinkunst´, in seinem Maigemälde gegeben hat, darf man im gleichen Sinne getrost gemalten Marxismus nennen.“8) Außerdem hatte Fuchs versucht mit seiner
„Naturgeschichte der Kunst“, dem Vorwort zur „Geschichte der erotischen Kunst“, die im Sommer 1908 im Selbstverlag herauskam9), einen materialistischen Ansatz für seine Sittengeschichte zu begründen. Ein entsprechendes Exemplar mit Widmung ließ er Karl Kautsky zukommen. Doch Kautsky, mit dem und dessen Frau Luise Luxemburg in engem Kontakt stand, reagierte nicht auf Fuchs´ Brief.10) Jedenfalls wurde Fuchs 1908 aus dem Vorwärts-Verlag gedrängt, nachdem schon auf dem Mannheimer Parteitag (23. Bis 29. 11. 1906) gegen die „illustrative Missgestaltung der Mai-Festzeitung 1906“11) gehetzt worden war; er trat auch nicht mehr als Redner auf dem SPD-Parteitagen auf.

II.
Luxemburgs Verdikt über die moderne bildende Kunst erstaunt. Denn sie, der im Abgangszeugnis des Mädchengymnasiums unter anderem. auch für Kalligraphie und Zeichnen die Zensur “ausgezeichnet” erteilt wurde,12) hatte sich doch selbst bildnerisch, zeichnerisch und malerisch betätigt und zeichnerische Fähigkeiten und malerisches Potential gezeigt. Sie zeichnete 1907 eine Porträtskizze
des fünfzehnjährigen Karl Kautsky jr. und 1908 eine Reisegesellschaft im Zug, malte Porträts (z. B. Hans Diefenbach und Hans Kautsky 1908, Kostja Zetkin 1909, Grete Kautky 1910) und Selbstporträts 1911).13)

Abb2
Abbildung 2 Quelle Helmut Hirsch: Rosa Luxemburg. 1995: 93

Etwa zur gleichen Zeit, als sie diese abfälligen Zeilen über die Maler veröffentlichte, versuchte sie sich selbst in der Freilichtmalerei: Am 4. August 1908 schrieb sie an Konstantin [Kostja] Zetkin, dem zweiten Sohn von Clara Zetkin: “Ich sagte am Sonntag dem H[ans] K[autsky], daß ich Ölfarben haben möchte, nun ist heute von Wertheim alles gebracht worden: Staffelei, Pinsel, Farben. Ich war toll vor Freude und fing sofort an zu malen, ganz allein, ohne jede Unterweisung. Ich habe von 1 Uhr bis jetzt (4 Uhr) immerzu gemalt, und zwar kopiere ich das Bild von Volkmann: Wogendes Kornfeld, das im Schlafzimmer hängt. Ich will vorerst nur ausprobieren, die Farben zu mischen. Und siehe: Es geht! Ich finde keine Schwierigkeiten, die Farben herauszukriegen, die ich brauche. Ganz stolz bin auf den blaßgrauen Himmel, den ich genau herausbekommen habe (aus vier Farben zusammen!). Das Bild ist fast fertig und gibt gute Perspektive.”14)

Abb3
Abbildung 3 Hans von Volkmann: Wogendes Kornfeld, 1901 Quelle
http://oldthing.de/Kuenstler-AK-Hans-von-Volkmann-Wogendes-Kornfeld-0016073076

Das Ölbild “Wogendes Kornfeld“ des Landschaftsmalers Hans von Volkmann (1860- 1927), der die Düsseldorfer und Karlsruher Schule der Landschaftsmalerei mitbegründete, zeigt ein goldgelbes Getreidefeld mit Wiesenrand und schmalem Himmel. Von Volkmanns Arbeiten waren subjektive Stimmungsbilder, besaßen einen Hang zur Sozialromantik und zur gefällige Darstellung, wodurch der Künstler gesellschaftlich erfolgreich wurde.15) Außerdem versuchte sie sich an Motiven am Schlachtensee.16) In ihrem Brief vom 22. 8. 1908 an Konstantin Zetkin gab sie kund: “… heute ging ich zum ersten Mal die Natur malen. Ich fuhr zum Schlachtensee und brannte vor Ungeduld, aber Gott, welche Schwierigkeiten. Ich konnte ja nur ein Skizzenbuch mitnehmen, also auf dem einfachen Papier und in der Luft malen, denn die Staffelei ging doch nicht mitschleppen! Also in einer Hand das Skizzenbuch und die Palette, in der anderen die Pinsel halten! Dabei mußte ich sitzen (auf einer Bank), konnte also nicht immer zurücktreten, um die Wirkung zu prüfen. Auch mußte ich auf einem winzigen Format malen, und ich habe das Bedürfnis, gleich ganz große Bilder zu machen, sonst hat der Pinsel keine Wucht. Und zum Überfluß konnte ich nur eine Stunde knapp malen, dann kamen Leute und trieben mich fort. Also genug, um mich verzweifelt zu machen, da außerdem noch das Wasser alle Augenblicke sich veränderte und der Himmel auch (heute kommt immerzu ein Gewitter). Ich war nahe dem Weinen, wie ich nach Hause fuhr. Aber gelernt habe ich wieder was. Nur habe ich keine Ahnung, wie ich je diese äußeren Schwierigkeiten überwinden werde – wie die Staffelei mitnehmen und eine größere Pappe wenigstens? … könnte ich jetzt 2 Jahre nur dem Malen leben, – das würde mich verschlingen! Ich würde bei keinem Maler je in die Lehre gehen, auch nie jemand um etwas fragen, nur selbst beim Malen lernen und Dich fragen! Aber das sind wahnsinnige
Träume, ich darf ja nicht, denn meine kläglich Malerei braucht kein Hund, meine Artikel aber brauchen die Leute…”17)
Dennoch muss sie sich weiterhin malerisch betätigt haben, denn in ihrem Brief vom 18.9.1915 an Luise Kautsky erinnert sie sich daran, dass sie “vor sechs Jahren”, also 1909, das Malen gepackt habe, “wo ich von morgens bis abends nichts machte als vom Malen träumen”18). Allerdings während ihres dreiwöchigen Urlaubs 1910 in Aeschi am Thuner See hatte sie keine Malutensilien mitgenommen.19)

Rosa Luxemburg hatte grundlegende Kenntnisse über Kunsttechniken, z. B. über das perspektivischen Zeichnens. In ihrem Brief aus dem Frauengefängnis Barnimstraße an Gertrud Zlottka, Luxemburgs Haushaltshilfe 1911/12 und 1915 als Zeichnerin in einer Postkartenfabrik tätig, machte sie diese auf einige Mängel in der Raumerfassung ihrer Bilder aufmerksam: “Zwar läuft der Raum, wenn man zurücktritt, mit Galopp in die Tiefe, und da vom Tisch, der ja wohl in der Mitte steht, zum Zuschauer noch einmal so ein Raum geht, so entspricht das Zimmer ungefähr dem Innern der Petrikirche in Rom. Auch müßte die Mimi, um auf solche Distanz vom anderen Ende des Zimmers so groß aussehen, ungefähr wie ein junger Eisbär sein. Aber das macht nichts, Ihr Fehler ist gerade hier eine Tugend; was sonst dem Maler das Schwierigste ist: die Tiefe, das überwinden Sie gleich im Sturm, daß sie wie ein guter Renner über das Ziel schießen, bis Sie auf der Nase liegen. (…) Im Ernst: das Bildchen ist ausgezeichnet, hat Tiefe, Licht und, was die Hauptsache: gute, strenge Zeichnung.”20) Gleichzeitig ermutigt sie und stellte einige Monate später Fortschritte bei Zlottkas Malerei fest: “Von der Mappe sind drei Bilder (Das blaue Stück Fluß oder Kanal, der flache Strand mit den zwei Landzungen und die Waldpartie mit dem goldleuchtenden Himmel) sehr gut; am besten jedoch gefällt mir eins von den winzigen Bildchen: das graue mit d. Fischerbuben; ich finde es ausgezeichnet.”21)
Insgesamt gesehen beruht Rosa Luxemburgs eigenes zeichnerisches und malerisches Schaffen sowie ihr Urteil auf konventionellen akademischen Anschauungen über visuelle menschliche Wahrnehmung, wie sie in der Renaissance ausgebildet wurde.

III.
Rosa Luxemburg war 1898 bewusst aus Zürich, ihrem Studienort, ins Deutsche Reich und seine Hauptstadt Berlin gekommen.
Das Deutsche Reich war um 1900 nach den USA und dem Vereinigten Königreich zur drittgrößten Industriemacht herangewachsen und schickte sich an weltweit zu expandieren, wovon auch die enorme Steigerung der privaten Auslandsinvestitionen von 2,5 Mrd. Dollar 1900 auf 9 Mrd. Dollar 1913, weltweit die dritte Position hinter dem Vereinigten Königreich mit 17 Mrd. Dollar 1913 und Frankreich mit 12 Mrd. Dollar 1913, zeugten.22) Gleichzeitig meldete das Deutsche Kaiserreich einen Weltmachtanspruch an.
Andererseits entwickelte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD) nach der Aufhebung der Sozialistengesetze (1890) zur Massenpartei: von 384.000 Mitglieder auf über eine Million 1914, die SPD-nahen Freien Gewerkschaften organisierten sogar 2,5 Millionen Mitglieder 1914. Seit 1890 erhöhte sich auch der parlamentarische Einfluss der SPD: im Reichstag von 19,7 Prozent 1890 auf 27,2 1898, sodann auf 34,8 Prozent mit 110 Sitzen 1912. Lediglich 1907 gab es bei den sogenannten “Hottentottenwahlen” erhebenliche Einbußen (wodurch sich die Reichtagsmandate von 81 auf 43 verminderten).
Genau in dieser aufsteigenden Partei, die noch keine festen Statuten besaß, wollte sich Rosa Luxemburg engagieren, und zwar sowohl idealistisch als auch karrieristisch. So lässt sie ihren politischen Gesinnungsfreund und Geliebten Leo Jogiches in ihrem Brief vom 1. Mai 1899 wissen: “Ich jedoch bin Idealist und will es bleiben, sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Bewegung. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich die Rolle eines tugendsamen Esels zu spielen beabsichtige, der für andere arbeitet; sicher, ich will und werde nach einer möglichst einflußreichen Stellung in der Bewegung streben, aber das steht nicht im geringsten dem Idealismus entgegen und braucht mich nicht dahin zu drängen, andere Mittel als meine eigenen ´Talente` einzusetzen, sofern ich welche besitze.”23)
Um dies zu erreichen, hatte sie schon in sozialdemokratischen Organen publiziert, stand mit Joseph Bloch von den “Sozialistischen Monatsheften” und Karl Kautsky von der “Neuen Zeit” 1897/98 im Briefwechsel, ging nicht nur im April 1898 in der Schweiz eine “Scheinehe” mit Gustav Zürich ein, sondern nahm auch nach ihrer Ankunft in Berlin sogleich Kontakt zum Parteivorstand der SPD auf, dem sie sich als Wahlkämpferin im Industrierevier des oberschlesischen Regierungsbezirks Oppeln anbot. Der erfolgreiche Abschluss dieser Wahlkampfaktivität eröffnete ihr das Feld publizistischer Tätigkeit für sozialdemokratische Zeitungen und Zeitschriften.24)
Auch suchte sie die Nähe einflussreicher Sozialdemokraten (August Bebel, Franz Mehring, Karl Kautsky, Clara Zetkin) und versuchte sich mit der Zeit deren Lebensstil anzupassen. Um 1907/08 gehörtem zum persönlichen Freundeskreis von Rosa Luxemburg vor allem die Familien von Kautsky, Zetkin, Mehring, Wurm und Rosenbaum.
“Bei Kautskys erstreckte ich die Freundschaft auf Karl und Luise Kautsky, auf Karls Mutter Minna (Granny), auf die Söhne Benedikt, Felix und Karl sowie den Bruder Hans, Hoftheatermaler und Professor in Wien. Nicht selten kam es vor, dass sich die Runde im Hause Kautsky um Eva und Franz Mehring, Julie und August Bebel, Paul Singer, Minna und Georg Ledebour, Mathilde und Emanuel Wurm oder um gelegentliche Besucher wie Otto Bauer, Gustav Eckstein, Rudolf Hilferding, Alexan-der Parvus, D. B. Rjasanow erweiterte.”25)
“Auch bei Zetkins im Hause Sillenbuch, Wilhelmhöhe bei Stuttgart, gehörte Rosa Luxemburg zur Familie. Der Maler Friedrich Zundel, Clara Zetkins zweiter Mann, freute sich mit Clara ebenso über Rosa Luxemburgs Besuche wie die Söhne Maxim und Kostja. Hier lernte sie Kostjas Freund Hugo Faisst kennen, einen hervorragenden Interpreten der Lieder von Hugo Wolf, für den er sie begeisterte. Hier begegnete sie auch dem Studenten Hans Diefenbach und sozialdemokratischen Redakteuren wie Friedrich Westmeyer von der ´Schwäbischen Tagwacht´ und August Thalheimer, der ab 1909 bei der ´Göppinger Volkszeitung´ arbeitete und zu dessen Schwester Berta sie ebenfalls Kontakt hatte.”26)

Die Kautskys und Zetkins pflegten den zeittypischen städtischen bildungsbürgerlichen Wohn- und Lebensstil der Jahrhundertwende mit entsprechenden kulturellen Vorlieben: private Lese- und Musikveranstaltungen oder öffentliche Opern-, Theater- und Kunstausstellungsbesuchen.
Den wollte auch Rosa Luxemburg, obwohl sie ihn sich im Grunde durch eigene Einkünfte aus Zeitungsartikeln und Kurstätigkeit an der Parteischule (ab 1907) finanziell nicht leisten konnte, doch sie wurde zuerst von Leo Jogiches, dann Hans Diefenbach und Eduard Fuchs großzügig unterstützt. Somit konnte sie sich auch wohnlich recht komfortabel einrichten: 1898/99 mietete sie ein elegant möbliertes Zimmer mit Balkon im ersten Stock eines Gartenhauses in der Cuxhavener Straße am Tiergarten, das u. a. einen “Schreibtisch, Schaukelstuhl, einem Spiegel über die ganze Länge der Wand” , sogar ein Piano besaß und monatlich 33 Mark kostete.27) Im Au-gust 1899 zog sie nach Friedenau in die Hauffstraße, dann in unmittelbare Nähe der Kautskys in die Wielandstraße: „Ihr Zimmer lag im II. Stock, war ein Salon mit Plüschmöbeln, hatte einen großen Balkon und kostete 80 Mark.“28) Im Dezember 1901 zog sie in die Cranachstraße um, wo sie mit Jogiches bis zum Sommer 1911 wohnte29). Danach mietete sie eine 5-Zimmerwohnung mit Küche in der Lindenstraße in Südende: „Alles fünf Minuten von der Bahn (zehn Minuten Fahrt zum Potsdamer Platz) und von der Elektrischen nach Steglitz und nach Lichterfelde“, teilte sie Kostja Kautsky mit.30)
Alle diese Wohnorte befanden sich in den gehobenen Vierteln im Westen der Stadt Berlin, wo sich auch die „Salonsozialisten“ niedergelassen hatten.
Selbst während ihrer Festungshaft in Wronke war sie in einem separaten Häuschen mit „wohnlich eingericht(en)“ Schlafzimmer und Wohnraum recht komfortabel unter-gebracht, außerdem hatte sie tagsüber Zugang zu einem ummauerten Gärtchen.31)
In Rosa Luxemburgs Freundeskreis32) befanden sich auch einige Künstler: Die Mutter des sozialistischen Theoretikers Karl Kautsky (1854-1938), Minna Kautsky (1837-1912) war Schauspielerin und Schriftstellerin und mit dem Landschaft- und Theatermaler Johann Kautsky verheiratet, ihr Sohn Hans Josef Wilhelm Kautsky trat in die Fußstapfen seines Vaters und war königlich-preußischer Hoftheatermaler in Berlin,
Der zweite Ehemann von Clara Zetkin, Georg Friedrich Zundel (1875-1948), war ein in Karlsruhe und Stuttgart ausgebildeter Maler, der lebensgroße realistische Menschen losgelöst von ihrem Milieu darstellte, von italienischen Kunstmäzenen gefördert wurde, das ihm auch ein Landhaus in Sillenbruch ermöglichte, und 1907 Porträts von Paula und Margareta Bosch, den Töchtern des Industriellen Robert Boschs malte. Nach seiner Scheidung von Clara Zetkin heiratete er 1927 Paula Bosch.
Zudem machte Rosa Luxemburg, nachdem sie zur Zeit der russischen Revolution (1905) in Warschau ein halbes Jahr festgenommen worden war, im August 1906 die Bekanntschaft der russischen Malerin Ekaterina Sergejewna Sarudnaja-Kavos (1862-1918), die ihr in Kuokkala (Finnland) Unterkunft bot und Treffen mit russischen Revolutionären (darunter auch mit Lenin, Alexander Bogdanow, Grigorij Sinowjew) ermöglichte.33)

Sarudnaja-Kavos malte auch Porträts, z. B. von der Schauspielerin Wera Komissarschewskaja (1906). In Kuokkala wirkte auch der bekannte russische Maler Ilja Jefimowitsch Repin (1844-1930), der mit Historienbildern und Porträt (z. B. Tolstoi) bekannt wurde, als Vertreter des russischen Realismus und als Vorbild des sozialistischen Realismus gilt.
Letztlich passt auch ins Bild ihre Vorstellung von einer gut bürgerlichen Lebensweise, dass sie wünschte, sich von einem anerkannten Maler porträtieren zu lassen.
Bestimmt nicht nur ironisch ist ihre Bitte an Luise Kautsky im Brief vom 26. 1. 1917 gemeint, dass Robert Kautsky (1895-1962), der Sohn des k&k-österreichischen und königlich-preußischen Hofmalers Hans Joseph Wilhelm Kautsky (1864-1927) Hoftheatermalers, der später jahrzehntelang als Ausstatter der Wiener Staatsoper wirkte, sie doch porträtieren könnte: “Könnte mir nicht Robert durch das nächste Lebewesen, das mich hier besucht (wenn der Finger des Herrn von Kessel bezeichnet, ist bei Frl. J. zu erfahren), ein paar seiner letzten Bilder mitschicken? Sie kämen garantiert unversehrt zurück, und ich hätte eine Mohrenfreunde! Er könnte ja vielleicht dabei sein Vorhaben ausführen und mich malen, falls ihm drei bis vier Sitzungen genügen. Bei Gott, die Idee macht mir Spaß. Da ich nun einmal ´sitze´, so könnte ich auch ihm sitzen. Auf jeden Fall würde mir schon der Anblick des taufrischen Jungen mit den strahlenden Augen wohl tun. Daß er als Sohn des Hoftheatermalers Erlaubnis kriegt, bin ich sicher, zumal, wenn Graf Hülsen eine Zeile schreibt …Das ist natürlich Spaß; Hans Naivus wird eher sterben als dem Grafen seine Freundschaft mit der Petrolöse verraten. Aber Robert kriegt wohl auch ohne Protektion Erlaubnis.”34)
Damit knüpft Rosa Luxemburg an den schon lange zerstobenen Traum von einem bürgerlichen Leben in sentimentaler Weise an, schrieb sie doch am 17. 7. 1900 an Leo Jogiches: “Ich träume, z. B., dass wir beide uns in freien Augenblicken dem Studium der Kunst, die mich letztens völlig fesselt, widmen würden. So zu zweit, nach der ernsten Arbeit, gemeinsam Kunstgeschichte zu lesen, Galerien zu besichtigen, Opern zu besuchen! Das wäre ein Genuß, nicht wahr?”35)

IV.
Rosa Luxemburgs Urteil über Werke der Bildenden Kunst ist geprägt vom herrschenden Kunstgeschmack ihrer Zeit, den Künstlern, die in Kunstausstellungen gezeigt und über Kunstbücher verbreitet wurden sowie den Künstlern, die an Kunstakademien lehrten. Dieser Kunstbetrieb war dominiert in Preußen von Herrschaftsporträt-, Historien- und Schlachtenmalern wie Wilhelm Camphausen (1818-1885), Anton von Werner (1843-1915) und Carl Röchling (1855-1920) und in Bayern von den sogenannten Malerfürsten, den gefälligen Porträtmalern Friedrich August von Kaulbach (1850-1920) sowie Franz von Lehnbach (1836-1904). Hinzu kamen Einflüsse von befreundeten Intellektuellen wie Kautsky, Mehring, Liebknecht, Zetkin und Malern des Freundeskreis.
Demnach standen in Kurs die bildenden Künstler der Hochrenaissance Italiens (Sandro Botticelli [1445-1510], Michelangelo Buonarroti [1475-1564], Leonardo da Vinci [1452-1519], Tizian Veccellio [1477-1576], Bartolomeo da Veneziano [1480-1530]), auch noch Guido Reni [1575-1642] und die des Nordens (Albrecht Dürer [1471-1528], Pieter Bruegel [1525-1599], Rembrandt van Rijn [1606-1669]). Rosa Luxemburg äußerte sich auch über Künstler des spanischen Barocks (Bartolome Estaban-Murillo [1618-1682]), des französischen Rokokko im Übergang zum Klassizismus (Elisabeth Vigée-Lebrun [1755-1842]), der englischen Romantik (William Turner [1775-1851]) und des deutschen Idealismus, wie die Deutschrömer Anselm Feuerbach (1829-1880) und Arnold Böcklin (1827-1901). Sie kannte auch Arbeiten des bedeutenden Porträtmalers Franz von Lenbach (1836-1904), des Landschaftsmalers Hans Thoma (1839-1924), und des Grafikers Otto Greiner (1869-1916), der mit dem Symbolisten Max Klinger (1857-1920) befreundet war sowie die der Franzosen Jean Francois Gigoux (1806-1894), Jean Francois Millet (1814-1875) und Auguste Rodin (1840-1917).
Ihre – oft nur kurzen – Urteile über Werke dieser Künstler, die hauptsächlich brieflich überliefert sind, zeugen von persönlichen Vorlieben und Geschmack sowie einer freundlichen Verbindlichkeit gegenüber den Personen, die ihr Kunstdrucke zukommen ließen. Darüber hinaus wirkt sich auch die Drucktechnik auf das Urteil aus.
Es lassen sich drei Äußerungsformen unterscheiden: zum einen längere kommentierende zu Künstlern und ihren Werken, zum anderen pauschale Kennzeichnungen (“Höllenhund Breughel“) und drittens wertfreie Erwähnungen.
Da Rosa Luxemburg sich nicht systematisch mit Kunst(geschichte) befasst hat, besteht kein Grund, ihre oft beiläufig-kurzen, brieflichen Äußerungen überzubewerten; zumal ihr Urteil oft auch fehlläuft.

Abb4
Abbildung 4 Bartolomeo Veneto: Flora, um 1520
Quelle http://de.wikipedia.org/wiki/Bartolomeo_Veneto [wikimedia commons]

Das trifft etwa auf Tizian zu, mit dessen Gemälde sich immer wieder Künstler unterschiedlicher Epochen auseinandersetzten, so Slevogt mit “Danäe” (1895), das 1899 auf der Ersten Münchener Sezession ausgestellt wurde und einen Skandal verursachte, oder Anthonis van Dyck mit “Karl V. zu Pferd” (1620). “Ich gestehe, dass Tizian eigentlich nicht mein Freund ist, er ist mir zu geleckt und kalt, zu virtuos”, schrieb sie am 14. 1. 1918 an Sophie Liebknecht.36) Aber sie ist bereit ihre Meinung über Tizian zu revidieren, nachdem sie erneut von Sophie Liebknecht, die Kunsthistorikerin war und mit “Die heilige Maria Magdalena in der Kunst des 14./15. Jahrhunderts” promoviert hatte, eine Sendung von Drucken erhalten hatte: Aus der Gefängniszelle in Breslau schreibt sie am 24. 3. 1918: “Wie schön sind die Bilder, die sie mir schickten! Von Rembrandt braucht man ja kein Wort zu sagen. Bei Tizian war ich von dem Pferd noch mehr überwältigt als von dem Reiter, so viel wahrhaft königliche Macht und Vornehmheit in einem Tier ausgedrückt, hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber das aller-, allerschönste ist das Frauenbildnis von Bartlomeo da Venezia (den ich übrigens gar nicht kannte). Welcher Rausch in den Farben, welche Feinheit der Zeichnung, welcher geheimnisvoller Zauber des Ausdrucks! Sie erinnert mich darin in irgendeiner unbestimmten Weise an Mona Lisa. Sie haben mir mit diesen Bildern eine Fülle der Freude und des Lichts in die Zelle gebracht …”37)
Sie schätzte auch Guido Reni (1575-1642), dessen Reproduktion von “Maria” in ihrer Wohnung hing, dagegen mochte sie Botticelli und den volkstümlichen Spanier Muril-lo nicht.38)
Auch die Rokokomalerei fand nicht ihr Gefallen. So schrieb sie aus Berlin einer “unbekannten Adressatin” im April 1915, dass sie die “Ausstellung der Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts” besucht habe und dort ein Bild der Lady Hamilton gesehen habe, der Name des Malers sei ihr entfallen und das Bild selbst “eine kräftige( ) und grelle( ) Mache” habe sie “kalt” gelassen: “Mein Geschmack sind etwas feinere Frauentypen. Ich sehe noch lebhaft in derselben Ausstellung das Bild der Madame Levallière, von der Lebrun gemalt, in silbergrauem Ton, was zu dem durchsichtigen Gesicht, den blauen Augen und dem hellen Kleid wunderbar stand. Ich konnte mich kaum trennen von dem Bilde, in dem das ganze Raffinement des vorrevolutionären Frankreichs, eine echte aristokratische Kultur mit einem leichten Anflug von Verwesung verkörpert war…”39)
Marie Elisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) gilt als Vertreterin des Rokokko im Übergang zum Klassizismus und vertrat die empfindsame Seite dieser Stilrichtung 40), deren Hauptvertreter Jaques-Louis David (1748-1825) war. Sie gilt als Porträtistin repräsentative Damen der Gesellschaft, darunter befand sich auch die Preußenkönigin Luise (1776-1810), die sie 1802 malte.
Bei den Romantikern war es William Turner, den Luxemburg überschwänglich lobte: In ihrem Brief vom 6. April 1915 an Marta Rosenbaum vermerkt sie, dass sie in ihrer Wohnung in Südende (Berlin) Studio-Mappen 41) von William Turner (1775-1851) besitze. Er sei für sie “der größte, der einzige Landschaftsmaler in Aquarell”. Und weiter führt sie aus: “die göttliche Schönheit dieser Bilder ergriff mich tief wie jedes Mal. Es ist für mich fast unfassbar, wie eine solche Schöpfung möglich ist, als wenn ich vor Tolstois Werken stehe.“42)

Abb5
Abbildung 5 William Turner: Rüdesheim, Blick auf das Binger Loch, 1817
Quelle Werner Schäfke: Rhein Romantik. Bonn: Bouvier, ²2002: 54/55

Wahrscheinlich handelt es sich um frühe Arbeiten Turners, z. B. Alpen- und Venedigbilder, denn sein Spätwerk ist geprägt von Ölbildern, in denen die Wirklichkeit über lichtdurchflutete Atmosphäre aufgelöst und poetisiert wird. “Seine Bilder erschließen sich nicht in erster Linie über ihren Gegenstand sondern sie wirken zunächst als heftig bearbeitete Farbmaterie, als Farbwirbel.”43) Dahinter steht die damals moderne naturwissenschaftliche Vorstellung, dass die Natur von sich aus dynamisch, permanent ihren Zustand wechselt und deshalb in andere Materie- und Aggregatzustände überführt werden kann.44)
Von den bildenden Künstlern des 19. Jahrhunderts schätzte sie die im Kunstbetrieb anerkannten akademischen Maler, so die sogenannten “Römer” Anselm Feuerbach und den Schweizer Arnold Böcklin, den volkstümlichen Landschaftsmaler Hans Thoma und den vielfach mit Preisen ausgezeichneten Franz von Lenbach sowie den dem Symbolismus zuneigenden Max Klinger.
Kurz vor Weihnachten 1898 teilt sie Jogiches mit, dass sie beabsichtigt Schönlanks 45) “etwas Anständiges” zu schenken und fragt ihn eher rethorisch (“einige Repoduktionen von Böcklin?)“46)
Der Maler, Zeichner, Grafiker und Bildhauer Arnold Böcklin idealisierte die antike Welt und stattete die Natur mit Fabelwesen aus; er galt als einer der bedeutendsten Künstler des 19. Jahrhunderts.

Abb6
Abbildung 6 Arnold Böcklin: Die Toteninsel V, 1886
Quelle http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Toteninsel [wikimedia commons]

Im Oktober 1905 hatte sie von Jogiches ein Exemplar von “Die Kunst – Monatszeitschrift für freie und angewandte Kunst” zugesandt bekommen47); dort gab es Abbildungen von Werken Lenbachs und Kolb. Einen Tag später schreibt sie an ihn: “Hast Du bemerkt, in der “Kunst” folgen den wunderschönen Arbeiten von Lenbach “moderne” Scheusale von Kolb aus Magdeburg? Gestern ging ich gegen 9 Uhr abends für ein Stündchen zu Kautskys. Wir haben zusammen diese Wunderlinge betrachtet und uns kaputt gelacht. Besonders Karl machte zu allem sehr amüsante Randglossen …”48)
Franz Seraph Lenbach (ab 1882 Ritter von Lenbach) galt um die Jahrhundertwende als Münchener Malerfürst, der nach einer zeitweise Annäherung an den Impressionismus sich am Stil von Rubens und Tizian orientierend zum glatten Porträtmaler der einflussreichsten Persönlichkeiten (Bismarck, Wilhelm I. und II., Franz Joseph, Papst Leo XIII.) entwickelte.
Alois Kolb (1875-1942) leitete von 1905-1907 die Magdeburger Kunstschule als Leh-rer für Akt- und figürliches Zeichnen, wirkte als Illustrator der “Jugend” und prägte den Jugendstil mit. Er war auch Mitglied der Berliner Sezession. Für diese Richtung der bildenden Kunst, der auch zunächst Friedrich Zundel (1875-1945) zuneigte, – er stellte im Januar 1902 in Berlin zwei Bilder aus, 49) – zeigte sie wenig Verständnis.
Als Rosa Luxemburg sich angesichts des russischen Parteitag (13. Mai bis 1. Juni 1907) in London aufhielt, teilt sie Kostja Zetkin ihre Eindrücke über die Metropole mit: “In schrecklicher Stimmung fuhr ich die unendlichen Stationen der dunklen Met-ro durch und stieg gedrückt und verloren in dem wildfremden Stadtteil [Whitechapel] aus. Dunkel und schmutzig ist es hier, das trübe Laternenlicht flackert und spiegelt sich in den Pfützen und Lachen (es regnete den ganzen Tag), in der Dunkelheit leuchten rechts und links gespenstisch die bunten Restaurants und Bars auf, Banden von Betrunknen torkeln mit wildem Lärmen und Schreien mitten durch die Straßen, Zeitungsboys brüllen, Blumenmädchen von fürchterlicher, lasterhafter Häßlichkeit, wie wenn sie Pascin gezeichnet hätte, kreischen an den Ecken, unzählige Omnibusse knarren und [Kutscher] knallen mit den Peitschen.”50)

Jules Pascin (1885-1930) war ein bulgarischer Maler des Expressionismus, der von 1902-1905 in Budapest, Wien, München und Berlin studierte, für den “Simplizissimus” arbeitete und mit Hans Purrmann, Paul Klee, Hermann Haller und auch mit Max Slevogt befreundet war.
Jahre zuvor, kurz nach ihrer Ankunft in Berlin, hatte sie noch den Realitätsgehalt der Abbildungen des modernen städtischen Lebens geschätzt: In ihrem Brief an Leo Jogiches vom 17. 5. 1898 stellte sie fest: “Übrigens stell Dir vor, die Zeichnungen von Thöny sind keine Karikaturen, sondern echteste Abbilder der Wirklichkeit, Fotos nach der Natur – in den Straßen sieht man eine Million solcher Gestalten …”51)
Dennoch blieb ihre Vorliebe bei den Traditionalisten wie dem Maler und Grafiker Otto Greiner (1869-1916), der mit Max Klinger befreundet war, dessen Atelier in Rom nutzte und dort großformatige Monumentalgemälde mit mythologischer Thematik anfertigte. In ihrem ausführlichen Brief vom 26.1.1917 aus der Festung Wronke schrieb sie an Luise Kautsky zurück: “Die Greiner-Mappe von Euch erfreut mich immer mehr, ich blättre sie oft durch und kriege dabei immer mehr Hunger nach anderem.”52)
Bei den französischen Künstler erwähnte sie positiv die ebenfalls akademischen naturalistischen Maler Jean Francois Gigoux und Jean Francoise Millet sowie August Rodin.
Nach der Überführung ins Breslauer Gefängnis teilt sie am 2. 8. 1917 Sophie Lieb-knecht ihre Empfindungen bei der Betrachtung ihre gedemütigten Mitgefangenen beim Hofgang mit. Die meisten hätten ihre Individualität verloren: “Freilich es gibt auch überall einzelne Gestalten, denen sogar die Gefängniskleidung nichts anhaben kann und die ein Malerauge erfreuen würden. So entdeckte ich schon hier eine junge Arbeiterin im Hofe, deren schlanke, knappe Formen wie der tuchumwundene Kopf mit dem strengen Profil direkt eine Millet-Gestalt abgäbe; es ist ein Genuß zu sehen, mit welchem Adel der Bewegungen sie Lasten schleppt, und das magere Gesicht mit der straff anliegenden Haut und dem gleichmäßig kreideweißen Teint erinnert an eine tragische Pierrotmaske. Aber gewitzigt durch traurige Erfahrungen, such ich solchen viel versprechenden Erscheinungen weit aus dem Wege zu gehen. In der Barnimstraße hatte ich nämlich auch eine Gefangene entdeckt von wahrhaft königlicher Gestalt und Haltung und dachte mir ein entsprechendes Ìnterieur` dazu. Dann kam sie als Kalfaktrice auf meine Station, und es zeigte sich nach zwei Tagen, dass unter dieser schönen Maske ein solches Maß von Dummheit und niedriger Gesinnung steckte, dass ich fortan die Blicke immer abwendete, wenn sie mir in den Weg lief. Ich dachte mir damals, dass die Venus von Milo am Ende nur deshalb ihre Reputation als schönste der Frauen durch Jahrhunderte hat bewahren können, weil sie schweigt.”53)
Die Kennzeichnung der jungen Gefangenen als “Millet-Gestalt” zeigt, dass sie Arbeiten von Jean Francoise Millet (1814-1875) kannte. Millet malte zunächst realistische Sujets des Bauernmilieus, zählt zur Schule Barbizon und verfertigte später impressionistisch Pastellzeichnungen und Landschaftsbilder.
Über den ihr von Sophie Liebknecht zu Weihnachten 1917 zugesandten Band von Auguste Rodin “Die Kathedralen” hatte sie sich “mächtig gefreut”: “Was mich besonders angenehm berührt hat, ist der Natursinn Rodins, seine Ehrfurcht vor jedem Gräslein im Felde. Das muß ein Prachtmensch gewesen sein: offen, natürlich, überströmend von innerer Wärme und Intelligenz; er erinnert mich entschieden an Jaurès.”54)

Auguste Rodin hat im Grunde weniger als Maler denn als Bildhauer Anerkennung gefunden. In seinen bildhauerischen Werken orientierte er sich an Michelangelos unvollendeten Werken und entwickelte das Fragmentarische als eigenständiges Ausdrucksmittel, außerdem schuf er Assamblagen, Neukompositionen schon bestehender Werke. Er beschritt damit den Weg in die Moderne.
Dagegen hält sie sich mit einem Urteil über Daumier zurück, als sie am 9. Januar 1918 an Clara Zetkin schreibt, dass sie “von Onkel Eduard den Daumier bekommen habe.”55) Gemeint ist das 1917 erschiene Werk von Eduard Fuchs: Honoré Daumier. Holzschnitte 1833-1870. In seiner Einleitung betonte er die Wechselwirkung von künstlerischem Individuum und politisch-ökonomischen Verhältnissen: “Jede Kunst ist untrennbar von den spezifischen Lebensinteressen ihrer Zeit, also von deren sozialen und politischen Konstellationen und Bedürfnissen. In diesen wurzelt sie und diese spiegeln sich in ihr.”56) Die Größe Daumiers nun läge darin, dass er “einer der bewußtesten Vertreter der bürgerlichen Ideologie war”, namentlich der Ideale der Großen Französischen Revolution von 1789.

Verwunderlich ist, dass Luxemburg keinen der Maler, die Heinrich Heine in seiner Artikelreihe über “Französische Maler” (1831)57) – darunter auch Delacroix – besprach bzw. überhaupt erwähnte, obwohl sie als Heine-Liebhaberin gilt. Ähnliches gilt für Luxemburgs Rezeptionsignoranz gegenüber dem (von Eduard Fuchs breit publizierten) Werk Doumiers.
Für moderne Strömungen in der Kunst hatte Rosa Luxemburg kein Verständnis: Impressionistische Malerei lehnte sie ab, Expressionismus, Kubismus und Avantgarde-Kunst gelangten nicht einmal in ihren Aufmerksamkeitsbereich.

V.
Insgesamt gesehen pflegte Rosa Luxemburg ein vormodernes Verständnis der bildenden Kunst. Ihr Ideal legte sie in einem Brief an Hans Diefenbach 1917 offen. Demnach sollte “die Form zur höchsten Einfachheit gebracht, ohne jedes Beiwerk, ohne jede Koketterei und Blendwerk, schlicht, nur auf die großen Linien reduziert, ich möchte sagen nackt, wie ein Mamorblock” sein. “Dies ist jetzt überhaupt meine Geschmacksrichtung, die in der wissenschaftlichen Arbeit wie in der Kunst nur das Einfache, Ruhige und Großzügige schätzt …”58) Sie knüpft dabei an Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) an, der den Künstlern seiner Zeit das “Studium der schönen Natur, des Konturs, der Draperie und der edlen Einfalt und stillen Größe in den Werken griechischer Meister”59) zur Nachahmung empfahl.
Mit der Industrialisierung nun gelangte die Bourgeoisie an die Macht, die zunehmend nicht nur alle Güter in Marktwaren verwandelte, sondern auch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse anregte, förderte und vereinnahmte. Dies betraf besonders Vorstellungen über die Dynamik der Natur: Newtons Modell einer atomistischen Lichtmaterie, Faradeys Nachweis der miteinander in Verbindung stehenden Elemente Hitze, Elektrizität und Licht und Helmholtz´ Gesetz von der Erhaltung der, Materie, Energie und Kraft.60) Diese Erkenntnisse wirkten auf die Wahrnehmungstheorie, was die bildenden Künstler, die sogenannten Impressionisten, – zumeist unbewusst – antizipierten, indem sie klare Konturen und feste Formen der gegenständlichen Welt aufgelösten: “Was blieb, war der flimmernde Widerschein des Gegenständlichen im farbigen Licht der Atmosphäre.”61) Dies bedeutete eine neue Weltsicht aus der individuellen und persönlich erlebten Wahrnehmung des Künstlers.
Außerdem bildete sich entsprechend der ökonomischen Verfassung des Gesellschaftssystems auch ein Kunstmarkt aus, auf und über den die Künstler ihre aus persönlicher Motivation geschaffenen Werke dem Publikum anboten. Diese Werke konnten zudem angesichts verbesserter Techniken in großem Umfang reproduziert werden.62) Die Aura der hehren Kunst und des genialen Künstlers verflüchtete sich, Kunst schien nivelliert und demokratisiert zu werden.
Auf beide Entwicklungen reagierten zuerst französische Maler, die Impressionisten genannt wurden, und traten damit in Gegensatz zu den Akademikern, die ein reaktionäres Herrschaftssystem ästhetisierten.
Ähnliche Vorstellungen verfolgten auch – entsprechend der ökonomischen Entwicklung zeitlich verzögert – die deutschen Impressionisten, vor allem Max Liebermann (1847-1935) und Max Slevogt mit ihren Landschaftsbildern.
Im Gegensatz etwa zu Eduard Fuchs lehnte Rosa Luxemburg diese Künstler ab, dem ersten fehle “das Genie”, der zweite gebe lediglich “dekadente Kleckserei.”63)
Diese persönliche Meinung konnte Luxemburg durchaus privat vertreten, doch da sie sie in der “linken” sozialdemokratischen “Leipziger Volkszeitung“, zu deren Redaktionsleitung sie 1901 kurzfristig gehörte, öffentlich machte, beeinflusste sie auch das Urteil von Sozialisten über moderner Kunst und versperrt ihnen den Zugang hierzu.
Wie andere sozialistische Intellektuelle und marxistische Theoretiker verkannte sie, dass mit dem Impressionismus ein Prozess der “fortschreitenden Auflösung der Gegenständlichkeit des Bildmotivs unter der Eigenmacht des Pinselzugs”64) erfolgte. Er leitete damit einen Prozess ein, der im 20. Jahrhundert zum Expressionismus, Kubismus, Futurismus und schließlich zur absoluten Malerei führte.
Angesichts des Verlustes des Objektes der Bildenden Kunst in ihrer Darstellung und der Grundkonstanten der Anschauung durch neue Techniken und naturwissenschaftlicher Theorien begaben sich die Künstler schon früh auf visuelle Such- und Experimentierfelder, die sich später – wie die Arbeiten der russischen Avantgarde – durchaus realitätstauglich erweisen konnten. Dies gilt besonders für die Architektur, die Typografie oder die Raumfahrt.65)
Noch problematischer ist jedoch, dass Rosa Luxemburg Feuerbach, Böcklin, Thoma und Greiner lobte und schätzte, denn deren mythologische bzw. naturalistische Arbeiten als Gegenpol zum naturwissenschaftlichen Blick der Zergliederung orientierte auf eine Scheinwelt, “ein Gefilde von Seeligen, wo im Spiel der Wellen Tritonen mit Nereiden schwärmen, schweigende Toteninseln, Katafalke in heiligen Hainen” stehen. “Die Allegorie wird Wirklichkeit, ein Seher aus dem Künstler, das Publikum zur Gemeinde.”66)
Diese synthetisierte malerische Scheinwelt präsentiert sich im Gewand der klassischen Antike als realistisch und war und ist deshalb auch ideologisch für erhabene herrschaftliche Legitimierung von Diktaturen nutzbar.
Die Diskussion um eine vorschnelle und undialektische Verurteilung der modernen Strömungen der Kunst als Ausdruck der Dekadenz, die mit dem angeblichen Niedergang der Bourgeoisie im imperialistischen Zeitalter des Kapitalismus korrespondiere, begann erst in den dreißiger Jahren mit der Expressionismusdebatte zwischen Georg Lukacs und Ernst Bloch, sekundiert von Hanns Eisler, Bertolt Brecht und Anna Seghers. Doch da hatte sich schon “ein dreifach epigonaler Klassizismus, der sich auch noch ´sozialistischer Realismus´ nennt und so administriert wird” 67), durchgesetzt.
Insofern ist Rosa Luxemburgs “gestörtes Verhältnis zu den modernen Strömungen der Gegenwartskunst” und ihre “Nichtbereitschaft, sich mit neuartigen künstlerischen Sichten auf die Wirklichkeit intensiver auseinander zu setzen”68) symptomatisch auch für die sozialistischen Dogmatiker und Vertreter der “sozialistischen Realismus”, speziell in der Malerei. Denn es wurde nicht analysiert, in welcher Form und welchem Ausmaß “Malerei abhängig vom Stand der gegenständlichen Produktivkräfte, der Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse und den damit zusammenhängenden Wahrnehmungsvermögen in Form sozialer Perzeptionsprozessen ist”69). Auch wurde nicht erkannt, dass Künstler im kapitalistischen Überbau antizipierende Funktion entwickeln können. Und mit Recht verweisen Bloch und Eisler darauf, “dass die großen französischen Impressionisten, Meister, die ihresgleichen an Bedeutung nur in der Renaissance finden – buchstäblich auf den Gräbern der Kommune gemalt haben.”70)

VI.
In diesem Beitrag ging es um theoretische Aspekte der Kunstauffassung (in) der deut-schen Vorkriegssozialdemokratie. Diese wurden am speziellen Beispiel von Rosa Luxemburgs so konventionellem wie engem Verständnis von Malerei herausgearbeitet. Rosa Luxemburgs Kunstverständnis erwies sich im besonderen als doppelt verengt: einmal konnten die in jede Kunst grundlegend eingelagerten visionär-utopischen Aspekte, Dimensionen und Perspektiven, die immer über bloße Abbildfunktionen von Kunstwerken hinausgehen, nicht erkannt werden; zum anderen konnte das ästhetische Novum nicht in politische Handlungsfelder und -formen eingebracht und übertragen werden.
Was nun historisch Allgemeines zur Vorkriegs-SPD zwischen 1890 und 1914 betrifft, so habe ich bewußt darauf verzichtet, seit mehr als hundert Jahren bekannte und teil-weise breit rezipierte Hinweise zu diskutieren. So etwa das wichtige empirische Material, das Robert(o) Michels 1911 veröffentlichte (und zugleich problematisch als ehernes organisationssoziologisches Gesetz der Oligarchie verallgemeinerte); wobei Michels Rolle und Funktion Rosa Luxemburgs in der SPD kannte und sie jener, alle politischen Flügel gleichermaßen umspannenden, Gruppe akademisierter Intellektueller zuordnete.71)

Noch einmal gut fünfzig Jahre später erschien Guenther Roths gesellschaftstheoretisch ambitionierte, kontrapunktisch angelegte Studie über die widersprüchliche Einheit von allgemeiner nationaler Integration und arbeiterklassenspezifischer Sozialisolation in der bürgerlichen wilhelminischen Gesellschaft mit dem Leitkonzept negative Integration.72) Ein nicht zu unterschätzender Aspekt dieses Prozesses war das kon-servativ-traditionelle Verständnis führender SPD-Funktionäre in kulturellen Fra-gen.73) Unabhängig von unverkennbaren Verbürgerlichungs- und Bürokratisierungsprozessen (in) der Vorkriegs-SPD dominierten sowohl beim Führungspersonal als auch in der Mitgliedschaft kleinbürgerliche Auffassungen von Kunst und instrumentales Verständnis von Kultur als Zuarbeiterin zur Politik.74)

1) Heinrich Heine: Französische Maler. In Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Hans Kaufmann. München 1964, Bd. VIII, S. 5-64, zit. S. 49.
2) Karl Kautsky: Tolstoi und Brentano, in: Die Neue Zeit, 1900/01, Heft 27, S.20-28, zit. S. 20; Friedrich Stampfer: Tolstoi, in: Sozialistische Monatshefte, 1903, Heft 12, S.924-927, zit. S. 926.
3) Rosa Luxemburg: Tolstoi als sozialer Denker. Zuerst erschienen in der Leipziger Volkszeitung am 9. September 1908, abgedruckt in: Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Marlen M. Korallow. Dresden 1972, S. 31-38, zit. S. 38.
4) Brief an Kostja Zetkin vom 11. Mai 1908. Nach: Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste. Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte Bd. 3, Leipzig 2007, S. 37.
5) Vgl. zur Geschichte des Bildes: „Der Fall Hodler“ Jena 1914-1919. Der Kampf um ein Gemälde. Feierstunde der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1969 anlässlich der 50. Wieder-kehr der „Befreiung“ (14.4.1919) des Gemäldes von Ferdinand Hodler „Aufbruch der Jenenser Studenten 1813“. Quellenedition Jenaer Dokumente zum Fall Hodler 1914/1919. Jena 1970.
6) Vgl. Ulrich Weitz: Der Mann im Schatten. Sitten-Fuchs, Sozialist, Konspirateur, Sammler, Mäzen. Berlin 2014; Abbildung S. 135.
7) Heiner Jestrabek: Eduard Fuchs. Kunstsammler und Zeitkritiker. Reutlingen, Heidenheim 2012, S. 57-63.
8) Ebenda, S. 59.
9) Eduard Fuchs: Geschichte der erotischen Kunst. Band 1: Das zeitgeschichtliche Problem. München 1908.
10) Ulrich Weitz: Der Mann im Schatten, aaO, S. 148f.; diese Nichtreaktion Kautskys könnte Fuchs als Hochmut des Akademikers gegenüber ihm als Nichtakademiker wahrgenommen haben.
11) Ebenda, S. 145
12) Helmut Hirsch: Rosa Luxemburg. Reinbek 1969; 18. Auflage 92.-94. Tsd., 1995, S. 12.
13) Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste, aaO, S. 40-41. Eine Fotografie mit der Abbildung der Zeichnung und zwei Abbildungen von Gemälden Luxemburg „Selbst-porträt“ und „Hans Diefenbach“ finden sich in: Helmut Hirsch: Rosa Luxemburg. aaO, S. 67, S. 92 und 93, eine Zeichnung Luxemburgs von Kostja Zetkin (1885-1980) auf der Internetseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Abbildungen findet man auch unter den Fotos in: Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biographie. Berlin 1996. In ihrem Brief an Gertraud Zlottko vom 25. 5. 1915 verweist sie selbst auf „mein [ ] Porträt von Dr. Diefenbach“, dessen „Kopf am besten getroffen war“. In: Rosa Luxemburg: Das Menschliche entscheidet. Briefe an Freunde. München 1958, S. 120-121, zit. S. 120. An Leo Jogiches schreibt sie am 6.1.1902, dass sie, nachdem sie sich mit Mehring Bilder von Zundel, Clara Zetkins Mann, angesehen hätte, er bei ihr zuhause in Berlin-Friedenau sich noch ein-einhalb Stunden aufgehalten hätte: „Er betrachtete immer wieder entzückt das Porträt seiner Frau, das bei mir über dem Schreibtisch hängt.“ Vgl. Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 101.
14) Zit. nach Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, trotz alledem, aaO, S. 305f.
15) Er war der Sohn des in Halle berühmten Chirurgen Richard von Volkmann und begann mit Aquarellen und Illustrationen von Halle. Seine Bilder – auch das „Wogende Kornfeld“ – sollen als Drucke verbreitet gewesen sein.
16) Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste, aaO, S. 40.
17) Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 146 f.
18) Rosa Luxemburg. Das Menschliche entscheidet, aaO, S. 71-73, zit. S. 71; Rosa Luxem-burg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 178.
19) Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, aaO, S. 353.
20) Brief an Gertrud Zlottka vom 25.5.1915. In: Das Menschliche entscheidet, aaO, S. 120-121.
21) Brief an Gertrud Slottka vom 7.8.1915; ebenda, S. 122.
22) Wilma Ruth Albrecht: Nachkriegsgeschichten. Sozialwissenschaftliche Beiträge zur Zeit(geschichte). Aachen 2007, S. 8.
23) Zit. nach: Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, aaO, S. 142.
24) Ebenda, S. 73-117„Für sie persönlich habe die Agitationstour folgendes gebracht: Erstens habe sie Beziehungen zu den beiden Redakteuren Bruhns und Schoenlank geknüpft, die ganz zu ihrer Verfügung ständen; zweitens wäre sie nun schon in einer Ecke Deutschlands in den Ruf eines hervorragenden Redners gekommen, Referentenanforderungen aus Breslau und Leipzig würden sicher nicht ausbleiben; drittens sei sie mit den Verhältnissen in Oberschlesi-en bekannt geworden und könne mit größerer Sicherheit darüber schreiben; viertens habe sie praktisch Verbindungen zum Parteivorstand erhalten und fünftens die wichtigsten oberschle-sischen Arbeiteragitatoren kennen gelernt.“ Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, aaO, S. 87.
25) Ebenda, S. 299.
26) Ebenda, S. 299f.
27) Ebenda, S. 80f.
28) Ebenda, S. 137; das entsprach dem doppelten Wochenlohn eines Maurers in Berlin bzw. dem halben Monatslohn eines Hüttenarbeiters in Rheinland-Westfalen. Vgl. Dokumente zur deutschen Geschichte 1905-1909. Herausgegeben und bearbeitet von Dieter Fricke. Frank-furt/Main 1977, S. 136.
29) Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, aaO, S. 169.
30) Ebenda, S. 375f.
31) Ebenda, S. 541
32) Er wurde durch die enge Bekanntschaft mit Kautsky und Bebel ab 1899 um Franz Meh-ring, Arthur Stadthagen, Fritz Zubeil, Hugo Heimann, Eugen Dietzgen, Paul Singer, Georg Ledebour, Johann H. W. Dietz, Natalie Liebknecht, Alice Geiser, Heinrich und Lily Braun sowie Heinrich Cunow erweitert. Siehe Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, aaO, S.118.
33) Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste, aaO, S. 37f.; Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, aaO, S. 249.
34) Rosa Luxemburg. Das Menschliche entscheidet, aaO , S. 85.
35) Schriften über Kunst…, aaO, hier zit. S. 102.
36) Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 196.
37) Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 196f.; gemeint ist Tizians „Kaiser Karl V. nach der Schlacht bei Mühlberg“ 1546, wahrscheinlich aber eher von Dycks Gemälde „Karl V. zu Pferde“ (1620), das oft mit Tizians Bild verwechselt worden war; au-ßerdem steht in Tizians Gemälde das Pferd nicht so zentral majestätisch im Mittelpunkt. Bei dem Frauenbildnis von Veneziano handelt es sich entweder um das Bildnis von Lucrezia Borgias (1525) oder um Flora.
38) Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste, aaO, S. 35.
39) Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 180.
40) Heinz Braun: Formen der Kunst. Eine Einführung in die Kunstgeschichte. Textband. München 1966, S. 161.
41) „The Studio“ war eine englische Kunstzeitschrift, die auch Mappen von William Turner herausgab.
42) Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO S. 178, Rosa Luxemburg. Das Menschliche entscheidet, aaO, S. 103-104, zit. S. 104.
43) Monika Wagner: Wirklichkeitserfahrung und Bilderfindung. William Turner. In: Monika Wagner (Hrsg.): Moderne Kunst 1. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst. Reinbek 1992, S. 115 -134, S. 115.
44) Ebenda, S. 131.
45) Bruno Schönlank (1859-1901), Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung und Reichstagsabgeordneter der SPD (jeweils 1894-1901).
46) Brief vom 22. 12.1898 in: Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, S. 98-99, zit. S. 99.
47) Brief an Jogiches vom 13.10.1905; Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 107-108.
48) Ebenda S. 108.
49) Mit Mehring besuchte sie am 6.1.1902 die Ausstellung, gab über Zundel jedoch weder ihr noch Mehrings Urteil an Jogiches wieder. Stattdessen verweist sie auf ein von ihr gemaltes Bild von Mehrings Frau, dass Mehrung „immer wieder entzückt“ betrachtet habe. Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 102.
50) An Kostja Zetkin am 13. Mai 1907, zit. nach Annelies Laschitza: Im Lebensrausch, aaO, S. 270f.
51) Schriften über Kunst…, aaO , S. 94. Eduard Thöny (1866-1950) war ein österreichischer Zeichner, Karikaturist und Mitarbeiter des Simplizissimus.
52) Rosa Luxemburg. Das Menschliche entscheidet, aaO, S. 81-85, zit. S. 85.
53) Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 193.
54) Brief an Sophie Liebknecht vom 14.1.1918 aus Breslau, in: Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 195 [Auguste Rodin].
55) Ebenda, S. 184.
56) Heiner Jestrabek: Eduard Fuchs, aaO, S. 89.
57) Heinrich Heine: Französische Maler. In Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Hans Kaufmann. München 1964, Bd. VIII, S. 5-64.
58) Brief aus Wronke vom 8. März 1917. In: Rosa Luxemburg: Schriften über Kunst und Literatur, aaO, S. 160.
59) Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. In: Winckelmanns Werke in einem Band. Berlin und Weimar 1976, S.1-37, zit. S. 23.
60) Monika Wagner: Wirklichkeitserfahrung und Bilderfindung. William Turner, aaO, hier S. 131.
61) Heinz Braun: Formen der Kunst, aaO, S. 175.
62) Später systematisch ausgearbeitet von Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter sei-ner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Essays zur Kunstsoziologie. Frankfurt/Main 1963, S. 9-63 [zuerst 1936].
63) Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste, aaO, S. 37.
64) Eberhard Roters: Malerei des 19. Jahrhunderts. Themen und Motive. Köln 1998, S. 8
65) Dies gilt besonders für El Lissitzkys Arbeiten und Entwürfe, etwa „Wolkenhügel“, die als Kranbauten im Kölner Rheinhafen realisiert wurden, Rednerbühne für Lenin, die als Fahnengestänge im Willy-Brandt-Haus in Berlins steht oder die Proun-Entwürfe, die als Weltraumstationen später baulich realisiert wurden; vgl. Wilma Ruth Albrecht, El – wie Lissitzky; in: liberal, 35. Jg. 1993, Heft 4, November 1993, S. 50-60.
66) Julius Meier-Graefe: Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten. Stuttgart 1905, S. 227. Zitiert nach: Peter Ulrich Hein: Die Brücke ins Geisterreich. Künstlerische Avantgarde zwischen Kulturkritik und Faschismus. Reinbek 1992, S. 45.
67) Ernst Bloch: Diskussion über Expressionismus (1938). In: Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden. Herausgegeben von Fritz J. Raddatz, Band II, Reinbek 1969, S. 51-59, zit. S. 58.
68) Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste, aaO, S. 37.
69) Wilma Ruth Albrecht: Soziologie der Künste. In: Soziologie heute, 3. Jg. 2010, Heft 14, Dezember 2010, S. 18-23, zit. S. 23; erweiterte Netzfassung
http://soziologisch.wordpress.com/2013/12/21/illustrierte-these-zur-malerei/
70) Ernst Bloch; Hans Eisler: Die Kunst zu erben (1938). In: Marxismus und Literatur, Bd. II, aaO, S.105-109, zit. S. 107.
71) Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Leipzig 1911 [= Philoso-phisch-soziologische Bücherei XXI], S. 319f.; Textfassung der Erstausgabe im Netz https://archive.org/stream/zursoziologiede00michgoog#page/n26/mode/2upim
72) Guenther Roth: The Social Democrats in Imperial Germany. A Study in Working Class Isolation and National Integration; preface Reinhard Bendix. Totawa/N.J. 1963, hier beson-ders S. 305 ff.
73) Roth: Social Democrats, S. 226.
74) Roth: Social Democrats, S. 310.

© Wilma Ruth Albrecht (2015)

Beitrag als pdf downloaden [Wilma Ruth Albrecht] Rosa Luxemburg und die Malerei (2015)

Wilma Ruth Albrecht ist Sozial- und Sprachwissenschaftlerin (Lic; Dr.rer.soc.) mit den Arbeitsschwerpunkten Literatur-, Architektur- und Politikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen: Bildungsgeschichte/n (2006) – Harry Hei-ne (2007) – Nachkriegsgeschichte/n (2008) – Pfalz & Pfälzer. Lesebuch Pfälzer Volksaufstand 1849 (2014) – Max Slevogt (1868-1932). Leben, Werk, Landschaft und Wirkung des Malers und Zeichners zwischen gesellschaftlicher Repräsentation und phantastischer Inspiration (2015). Die Autorin arbeitet derzeit an ihrem Romanpro-jekt zum letzten ´kurzen´ Jahrhundert – EINFACH LEBEN. ePostadresse dr.w.ruth.albrecht@gmx.net

9. Januar 2014

DEUTSCHE FORSCHUNG(SGEMEINSCHAFT) ODER GUTE ABSICHT ALLEIN REICHT NICHT…

von Richard Albrecht

Dass gut gemeint (zu) oft das Gegenteil von gut ist – meint auch hierzulande der Volksmund. Die aktuelle DFG-Variante lautet: GUTE ABSICHT ALLEIN REICHT NICHT. Sie findet sich unter dieser Überschrift im Forschungsbericht der „Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeine Pädagogik der Universität Bamberg“ im Vierteljahresmagazin „forschung“ 4/2013[1] der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Dort wird eine wichtige Dimension politischer Lernprozesse abgehandelt. Finanziell gefördert wurde das „Projekt“ von der DFG im „Einzelverfahren“.

DFG-Praxis: Exklusion

Dass die DFG und ich uns nicht besonders mögen ist so bekannt wie notorisch[2]. Was nicht nur, aber auch daran liegt, dass die DFG laut letztveröffentlichter Selbstdarstellung (in „forschung“ 4/2013: 32) „die größte Forschungsförderungsorganisation und die zentrale Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft in Deutschland […] mit einem jährlichen Etat von inzwischen rund 2.7 Milliarden Euro“ ist. Und als habilitierter Sozialwissenschaftler gelte ich zwar seit fünfundzwanzig Jahren als professorabel – bin freilich in der DFG nicht einmal berechtigt, einen Förderungsantrag zu stellen. Denn bei der DFG sind – so die letzte nachgeschobene Begründung – „grundsätzlich“ nur die Wissenschaftler/innen für ein Forschungsstipendium „antragsberechtigt“, die „in das deutsche Wissenschaftssystem integriert sind“; und „integriert“ ist (nur) die oder der, so die DFG weiter, der oder die „unmittelbar vor der Antragstellung mindestens drei Jahre während der Promotion und/oder der Postdoc-Phase ununterbrochen wissenschaftlich in Deutschland gearbeitet hat.“[3] Das traf auf mich nicht zu: ich wurde „in Deutschland“, genauer der Alt-BRD, 1976 extern promoviert, 1989 extern habilitiert und war zu keinem Zeitpunkt drei Jahre lang an einer Universität „in Deutschland“ angestellt.

„Soziale Schließung“ als Ausschluss

Was die DFG seit einem Vierteljahrhundert gegen (Typen wie) mich praktiziert ist nichts Anderes als „soziale Schließung“ (Max Weber) und steuert (wie´s akademisch so höflich wie gestelzt heißt) den „Prozeß, durch den soziale Gemeinschaften Vorteile zu maximieren versuchen, indem sie den Zugang zu Privilegien und Erfolgschancen auf einen begrenzten Kreis von Auserwählten einschränken. Das führt dazu, dass bestimmte, äußerlich identifizierbare soziale und physische Merkmale als Rechtfertigungsgrund für den Ausschluss von Konkurrenten hervorgehoben werden. Weber nimmt an, dass praktisch jedes Gruppenmerkmal – Rasse, Sprache, soziale Herkunft, Abstammung – herausgegriffen werden kann, sofern es nur zum ›Monopolisieren bestimmter, und zwar der Regel nach ökonomischer Chancen‹ benützt werden kann. Die Monopolisierung richtet sich ›gegen andere Mitbewerber, welche durch ein gemeinsames positives oder negatives Merkmal gekennzeichnet sind, […] und das Ziel ist: in irgendeinem Umfang stets Schließung der betreffenden (sozialen und ökonomischen) Chancen gegen Außenstehende‹.“[4]

DFG-Theorie: Plädoyer für die „Anstrengung des Begriffs“

So gesehen, hat mich in gewisser Weise der Ende 2013 veröffentlichte Zwischenbericht aus der DFG-Forschungsförderung positiv überrascht. Dort wird nämlich eine aus der sozialistischen Arbeiterbildung der letztbeiden Jahrhunderte bekannte Praxis des politischen Lernens über das konkret-empirische „setting“ hinaus – was „Heranwachsende“ über „die Weltgesellschaft“ lernen können – für den „Bereich der politischen Bildung“ bestätigt und verallgemeinert: ohne grundlegende begriffliche Kenntnisse können neue und fremde Erfahrungen nicht verstanden werden; genauer: immer dann, wenn entsprechende „(Denk-) Kategorien fehlen“, können Menschen nicht „konstruktiv mit den erfahrenen Unterschieden umgehen“[5]. Mit anderen Worten: ohne die „Anstrengung des Begriffs“ (G.F.W. Hegel) sind mögliche produktive Lernprozesse grundsätzlich blockiert. Das freilich war (mir) auch schon vor der letzten DFG-„forschung“ nicht gänzlich unbekannt … [6]

[1] Dieses DFG-Heft stand bis 8.1.2014 noch n i c h t im Netz (8.1.2014); der entsprechende Link wäre nach der DFG-Systematik http://www.dfg.de/sites/flipbook/forschung/for_13_04/
[2] Richard Albrecht, DFG ODER DEUTSCHES FORSCHUNGSGULLY. Dokumentarischer Kurzbeitrag zur Wissenschaft im/als Bonzenpark: http://www.mops-block.de/rmk-tagebuch/157-dfg.html [26. Mai 2012]; bear-beitete und gekürzte Druckversion in: FORUM WISSENSCHAFT, 29 (2012) 4: 49-52; im Netz http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/6570947.html
[3] DFG-Vordruck 1.04-10/09: 1; zitiert nach Richard Albrecht, GUTT-BYE, BUY GUTT: http://duckhome.de/tb/archives/8953-GUTT-BYE-BUY-GUTT.html
[4] Frank Parkin, Strategien sozialer Schliessung und Klassenbildung; in: Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2. Hg. Reinhard Kreckel. Göttingen 1983: 121-136, zitiert 123
[5] „forschung“ 4/2013: 10-13
[6] Richard Albrecht, Von der Theorie des falschen Bewußtseins zur Praxis von Handlungsblockaden. Ein Bei-trag zur little ranged theory; in: soziologie heute, 6 (2013) 29: 32-33; erweitert in: FORUM WISSENSCHAFT, 30 (2013) 4: 49-51

19. Februar 2013

Das „als-ob-Syndrom“

Filed under: Uncategorized — soziologie heute @ 14:28

von Richard Albrecht

+[Richard Albrecht] ALS-OB-SYNDROM (2013)

Nächste Seite »

Erstelle kostenlos eine Website oder ein Blog auf WordPress.com.