Finanzkrisen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen
von Friedrich Fürstenberg
Das spektakulärste Beispiel für die Krisenanfälligkeit globaler Finanzmärkte waren zunächst die Schuldenkrisen, von denen seit den 80er Jahren die Schwellenkländer heimgesucht wurden. Extrem steigende Zinssätze, die Aufwertung des US-Dollar und ein steigender Erdölpreis haben zusammen mit bedenkenlosen Kreditausweitungen und interner Misswirtschaft bei politischer Instabilität dazu geführt, dass eine massive Kapitalflucht einsetzte und Staaten illiquide wurden: Polen im Dezember 1981, Mexiko im August 1982 und dann 1994, die schwere Asienkrise 1997, 1998 Russland, 1999 Brasilien und die Türkei, 2001 Argentinien, 2008 Island und die Ukraine.
Die Folgen für die Wirtschafts- und Sozialstruktur der betroffenen Staaten waren dramatisch. In Mexiko kam es zu einer Währungsabwertung von etwa 50 Prozent innerhalb weniger Tage. Die Kosten der Bankenrestrukturierung belasteten die Bevölkerung mit einem Verlust von fast 20 Prozent des BIP. Im Jahr nach der Finanz- und Bankenkrise fiel das mexikanische BIP um 7 Prozent, der private Verbrauch ging um 17 Prozent zurück und die Investitionen sanken um 30 Prozent. Eine Studie der Weltbank ermittelte für den Zeitraum von 1978 bis 1999 insgesamt 114 Krisen des Bankensystems in 93 Ländern und 51 Krisen einzelner Banken in 41 Ländern (Caprio/Klingebiel 2003).
Die Sanierung mittels internationaler Hilfspakete wurde an Umschuldungsvereinbarungen geknüpft. Deren Ziel ist die Wiederherstellung der Fähigkeit zum Schuldendienst. Sie finden wegen ihrer den Lebensstandard der ärmeren Bevölkerungsschichten zunächst senkenden Auswirkungen immer wieder vehemente Kritik.
Seit August 2007 stehen im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit die Bankenkrisen (Bankgesellschaft Berlin, BAWAG Wien, Bear Sterns, Lehman Bros., Royal Bank of Scotland, Hypo Realkredit etc.), die durch Fehleinschätzung der Risiken globaler Finanzengagements immer wieder entstehen. Die in den Kreditinstituten gelagerten „bad loans“ die weder Zinserträge bringen noch verkäuflich sind, schränken den Kreditrahmen erheblich ein und belasten durch diese Kreditsperre andere Wirtschaftssektoren ganz erheblich. Diese Vorgänge bekunden einen spektakulären und risikoreichen Orientierungswandel bei den Geldanlage-Strategien, die sich in Einzelfällen weit von den üblichen Geschäftsbereichen mit beherrschbarem Risiko entfernt haben.
Angesichts derartiger Fehlentwicklungen wird immer wieder gefordert, die internationalen Finanzmärkte in ein funktionsfähiges Normen- und Kontrollsystem, in eine „internationale Finanzarchitektur“ einzubinden (Nier 2009). Ansätze hierzu bildet der so genannte, vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank entwickelte „Washington- Konsens“ von 1990. Danach müssen sich zur Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit die Schuldnerländer zur rigorosen Haushaltsdisziplin, zu einer Steuerreform, zu hohen Zinsen, zu exportfördernden Wechselkursen, zu einer Handelsliberalisierung, zur Verbesserung der Konditionen für ausländische Investoren (Rechtssicherheit, Minimierung staatlicher Auflagen), zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Einrichtungen, zu Deregulierung und zum Abbau staatlicher Einflussnahme verpflichten. Evaluationen der Wirksamkeit derartiger Reformkonzepte, die nahezu alle Politikbereiche eingreifen, gelangen allerdings zu dem Schluss, dass etwa 40 Prozent der IWF-Programme während der Laufzeit abgebrochen werden und ein gleich hoher Anteil der vereinbarten Bedingungen von den Kreditnehmern nicht eingehalten wird. Auch sind die Auswirkungen auf Wirtschaftswachstum und Lebensstandard eher negativ. (Dreher 2006).
Die Kreditvergabe der Banken soll durch das Abkommen Basel II an Mindestnormen der Kapitaldeckung gebunden werden, die das Risiko der Illiquidität und Insolvenz entscheidend vermindern können. Auch wird versucht, das Gebaren der Investmentfonds, insbesondere der Hedgefonds an Risiko beschränkende Konventionen zu binden, die von der Bankenaufsicht kontrolliert werden. Es hat sich jedoch erwiesen, dass weiterhin regelungsfreie Zonen und Bereiche bestehen. Auch verringert sich angesichts global operierender Finanznetzwerke das Regelungspotenzial der Nationalstaaten dramatisch, und die Initiativen transnationaler Zusammenschlüsse und Organisationen bieten vorerst keinen Ersatz.
Soziale Auswirkungen globalisierter Geld- und Kapitaltransfers
Es fehlt nicht an individual- und sozialethischen Handreichungen für den richtigen Umgang mit Geld, der allerdings zwischen der Scylla eines konjunkturpolitisch unerwünschten exzessiven Sparens und der Charybdis fremdbestimmten Konsumterrors nur schwer für alle Lebenslagen fixierbar ist. Dennoch wird der Anschein erweckt, persönliche Entscheidungen könnten in der „Wahlurne des Marktes” (Ludwig v. Mises) globale Prozesse neutralisieren oder durch die „große Weigerung” (Herbert Marcuse), exzessiv zu konsumieren, die gesellschaftliche Wende herbeiführen.
Die „Sozialisation” des Geldes ist nicht auf der Ebene des Individualverhaltens zu erreichen, sondern erfordert einen institutionellen Rahmen, wie Werner Sombart frühzeitig mit seiner Forderung nach einer „Zähmung des Riesen Kapitalismus” erkannte. Es geht um nichts weniger als um eine „Resozialisation” insbesondere des Finanzkapitals, um seine Einbindung in von Menschen verantwortete Sozialstrukturen.
Der Trend zur weltweiten Marktöffnung und Marktverflechtung hat strukturelle Entgrenzungen des Wirtschaftshandelns und seiner institutionellen Rahmenordnungen bewirkt. Der Widerspruch zwischen zwei gesellschaftspolitischen Paradigmen zur Steuerung von Wirtschaftsprozessen wird offenkundig. Vorrang hatte bisher der Staat als Hüter des Gemeinwohls durch eine, wenn auch als Kompromiss ausgehandelte, Sicherung des sozialen Ausgleichs gegenüber der Optimierung von Rentabilität und Produktivität aus privatwirtschaftlicher Sicht. Diese Prioritäten haben sich umgekehrt. Vorrang haben ertragssteigernde Marktstrategien. Nur hierdurch scheint sich auch Spielraum für sozialverträgliche Absicherungen zu öffnen. Dem Staat kommt im Wesentlichen eine Förderungs- und eine Korrekturfunktion zu. Er soll das Produktivitäts- und Innovationspotenzial der Wirtschaft fördern und Fehlentwicklungen korrigieren, jedoch ohne die Marktstrukturen außer Kraft zu setzen. Die Auseinandersetzung über die Prioritäten findet allerdings vor dem weiterhin bestehenden Hintergrund institutioneller, also rechtlich fixierter Regelungen statt. Immer mehr wird erkannt, dass Finanzmärkte ohne institutionelle Bindung letztlich zur Anarchie tendieren.
Den Interessen der institutionellen und privaten Besitzer von Geldvermögen entspricht das Entstehen einer Funktionärsschicht von Verwaltern riesiger Potenziale von Verfügungsmacht, deren Strategien sich an der Verwertbarkeit von jederzeit in Geld wandelbaren Kapitalanlagen orientieren.
Die neuen Mechanismen von Erwerb und Transfer wirtschaftlicher Macht bedingen auch eine neue Qualität wirtschaftspolitischer Entscheidungen. Die Sorge um unkontrollierbare Geld- und Kapitalabflüsse fördert einen entsprechenden interregionalen und zwischenstaatlichen Wettbewerb, in dem staatliche Instanzen den möglichen Investoren Konzessionen machen, z.B. durch Steuervergünstigungen. Darüber hinaus findet eine transnationale Ausbreitung hegemonialer Finanzstrukturen statt, die durch einzelstaatliche Kontrolle und durch demokratische Prozesse bisher nicht steuerbar sind.
Damit einher geht ein Wandel gesellschaftlicher Orientierungen.
Nahegelegt wird der Bevölkerung angesichts einer relativen Abwertung des „Arbeitsvermögens“ durch zunehmend globalisierte Kapitalumschichtungen der Aufbau von Geldvermögen auf breiter Basis zur Risikoabsicherung und Erzielung alternativer Einkommen. So empfahl Hans-Werner Sinn, der Leiter des Münchner Ifo-Instituts 2004: „Der einzige Weg, den ich sehe, diese Einkommmensverluste (durch Outsourcing und Offshoring. Anm. d. Verf.) zu verringern, liegt im Sparen. Zu den Lohneinkommen muss ein Kapitaleinkommen als Einkommensquelle hinzutreten.“
Gerade diejenigen, die das Sparen am nötigsten hätten, sind hierzu jedoch immer weniger in der Lage. Leitbild ist auch nicht das herkömmliche Sparverhalten, sondern eine spekulative Anlage in Fonds mit weithin fiktiven Ertragserwartungen. Wirtschaftsbezogenes Verhalten erhält damit tendenziell den Charakter von Wetten. Rationalität wird im „Casino-Kapitalismus“ auf die Berechnung von Chancen reduziert.
Nun gibt es zweifellos Gesellschaftssegmente, in denen diese Veränderungen im wirtschaftlichen Machtgefüge eher indirekt und diffus wahrgenommen werden und kausale Betroffenheit im negativen Sinne daher nicht nachvollziehbar ist. So zeichnet sich eine polarisierte Bewusstseinsstruktur ab: einerseits die Denkgewohnheiten der Virtuosen im Umgang mit geldmäßigen Verfügungspotenzialen und ihre Klientel, andererseits die Wirtschaftsubjekte mit traditionsorientiertem Erwartungshorizont einer statusgemäßen Lebenssicherung.
Von letzteren wird „Vertrauen“ erwartet, das durch „vertrauensbildende Maßnahmen“ zu stärken ist. Hierzu gehören aber die Kontinuität von Erfahrungen und die Vorhersehbarkeit von Handlungsfolgen. Dies kann ein von globalen Finanzmärkten beherrschtes, extrem volatiles Geldsystem nicht leisten. Der Widerspruch zwischen der riskanten Verwertung von Liquiditätsreserven einerseits und dem Sicherheitsstreben im Zusammenhang mit langfristiger Lebensplanung andererseits ist vorläufig unauflösbar. Diese wird zunehmend illusionär angesichts umfassend liquiditätsgesteuerter Gesellschaftsprozesse.
Dennoch besteht kein Anlass, sich mit einer dämonisierenden Auffassung vom Geld anzufreunden, die diesem autonome Wirkungen zuschreibt. Es sei zugegeben, dass sie weithin „systemisch“ bedingt sind. Dennoch sind auch Systemzwänge immer noch Herausforderungen, sich ihnen zu unterwerfen, sie zu akzeptieren, sie zu meiden oder sie gar zu beseitigen. Wenn Menschen ihre Handlungsfähigkeit gegenüber dem Geld verlieren, so tragen sie letztlich die Verantwortung dafür und können sich nicht mit dem Hinweis auf eine angebliche Eigengesetzlichkeit oder Neutralität des Geldes exkulpieren. Hinter dieser „Eigengesetzlichkeit“ verbirgt sich nichts anderes als ein oft ungehemmtes und auch lokalisierbares Machtstreben.
Es kommt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive also nicht nur darauf an, Mechanismen offenzulegen, sondern den Verantwortungsspielraum aufzuzeigen, der modernen Geldformen angemessen ist. Der Weg zur Bändigung des Molochs Geld führt neben der Erlernung von Kulturtechniken zum sachgemäßen und verantwortungsbewussten Umgang mit Geld vor allem über seine Institutionalisierung, seine Einpassung in eine mit der Gesellschaftsentwicklung korrespondierende Geldverfassung. Hierfür gibt es durchaus schon sichtbare Ansätze. Ihre Weiterentwicklung ist vor allem Aufgabe jener, die den Umgang mit dem Geldinstrumentarium verantworten müssen. Sie haben sich hierbei immer wieder zu fragen, inwieweit Handeln, das sich an der Zweckmäßigkeit aus der Sicht des Eigennutzes orientiert, letztlich durch die Sinnbestimmung dieser keineswegs selbstverständlichen Handlungsfreiheit getragen wird (Fürstenberg 1988).
So stellt sich erneut und dringlich die Frage nach einer „Sozialverfassung“ des Globalisierungsprozesses mit entsprechendem Sozialverhalten der Betroffenen und Beteiligten. Anzumerken ist allerdings, dass eine erhöhte Regelbindung des Finanzsektors keineswegs ausreicht, die Risiken des Wirtschaftssystems letztlich zu beherrschen. Sie liegen in dem Schwanken und der tendenziellen Reduktion von Profitraten, wodurch immer wieder Suchprozesse nach optimaler Kapitalverwertung ausgelöst werden, deren Risiken nur begrenzt beherrschbar sind. So bleibt der internationalen Staatengemeinschaft weiterhin die Aufgabe, für angemessene Schadensbegrenzung zu sorgen.
Literatur
Caprio, G./Klingebiel, D. (2003): Episodes of Systemic and Borderline Financial Crises. http.//econ.worldbank.org/research
Dreher, A. (2006): Unter falschen Bedingungen. Die bisherige Auflagenpolitik des Internationalen Währungsfonds ist erfolglos und oftmals sogar schädlich. In: FAZ vom 15.4.2006, S. 13.
Fürstenberg, F. (1988): Geld und Geldkritik aus wirtschaftssoziologischer Sicht, in: Reinhold, G. (Hrsg.): Wirtschaftssoziologie. München/Wien: Oldenbourg, 60-73.
Nier, E.W. (2009): Financial Stability Frameworks and the Role of Central Banks: Lessons from the Crisis. IMF Working Paper 09/70.
Sinn, H.-W. (2004): Das Dilemma der Globalisierung. St. Gallen: Forschungsgemeinschaft für Nationalökonomie an der Universität St. Gallen.
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