eine „fragwürdige“ Profession?
von Friedrich Fürstenberg
(aus: Public Observer Nr. 29 v. 2. 6. 2006)
In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit ist Soziologie immer noch eine „fragwürdige“ Profession. Zwar ist sie als selbständiges akademisches Fach fest etabliert, und in zahlreichen Berufsfeldern sind Soziologen erfolgreich tätig. Einheitliche Berufsbilder sind jedoch nicht entwickelt worden, so dass es keinen Stellenmarkt im engeren Sinne gibt und institutionell gesicherte Karrieren eher die Ausnahme sind. Dies hängt auch mit einer Besonderheit soziologischer Selbstreflexion zusammen.
Probleme der Identitätsfindung
In Forschung und Lehre plagt man sich mit unaufgelösten Widersprüchen, die auch eine spätere Praxisorientierung beeinflussen. Ist Soziologie „Grundwissenschaft“ als universeller Philosophieersatz, ist sie autonome „Bildungswissenschaft“ für Hörer aller Fakultäten oder ist sie „Fachwissenschaft“ „zur empirischen Erforschung der sozialen Realität“ (Max Haller 1989, 185), oft eingeschränkt verstanden als zuständig für die Nomenklatur des Sozialen in griffigen Schlagworten oder für die Techniken empirischer Sozialforschung oder für die Problemreste der Nachbardisziplinen?
Fragen wir nach den Gründen für diese Unsicherheit, dann gelangen wir zu einem Dualismus der Erkenntnisinteressen dieser Wissenschaft, der sie so
spannend, aber auch so schwierig macht. Einmal geht es ihr um die Gewinnung von Reflexions- und Handlungsspielräumen durch Erkenntnis gesellschaftlicher Handlungsbedingungen, also letztlich um die Befreiung des Menschen von unnötigen Zwängen.
Aus dieser Sicht ist Soziologie die Emanzipationswissenschaft schlechthin und damit allen Autoritäten grundsätzlich suspekt. In der Gegenposition erscheint aber auch Soziologie als Ordnungswissenschaft von den vorwiegend institutionellen Bindungen, die den Fortbestand der
Gesellschaft sichern. Zum anderen vermittelt die Soziologie strategische
Orientierungen für planendes und vorausschauendes Handeln im Sinne des schon von Auguste Comte geforderten „savoir pour prévoir“ und damit für eine gewissermaßen soziotechnische Organisation von Handlungsstrukturen und Handlungsabläufen. Ganz im Gegensatz zu den Kritikern, die Soziologie als unverständliche Wissenschaft von den Selbstverständlichkeiten des Alltags denunzieren und den Soziologen Professionalität absprechen wollen, sind diese in beiden Bereichen außerordentlich erfolgreich tätig.
Eine Orientierung in der modernen sozialen Wirklichkeit sowie die Benennung und Analyse ihrer Probleme sind ohne die von Soziologen geschaffene Begriffssprache und das damit verbundene Problembewusstsein nicht denkbar, ob es sich nun um Modernisierung, Indivdualisierung und Globalisierung in einer Risiko-, Dienstleistungs- oder Erlebnisgesellschaft
handelt, um Wertewandel, Lebensstile und multikulturelle Milieus, um die Jungen Alten, Randgruppen, Terroristen oder Kommunikations-,
Selbstverwirklichungs- und Partizipationsprobleme. Aber auch die soziale Praxis hängt von den Problemlösungen der Soziologen ab. Keine Familien- und Jugendberatung, kein Programm betrieblicher Personal- und Organisationsentwicklung, keine Markt- undMeinungsforschung, keine Regional- und Stadtplanung, keine sozialpolitische Maßnahme, aber auch keine Vorbereitung eines Verbandskongresses, keine Wahlstrategie einer Partei, keine Konzeptualisierung eines politischen Programms ist ohne
Rückgriff auf soziologisches Wissen, also ohne die Hilfe der Soziologen denkbar, ob dies nun explizit eingestanden oder nur implizit praktiziert wird.
Auch die Beschaffung der für Steuerungs- (und Reform-)prozesse unerlässlichen Planungs- und Orientierungsdaten ist ohne empirische Sozialforschung nicht möglich. Ihre Reduktion im öffentlichen Bewusstsein auf Markt- und Meinungsforschung entspricht keineswegs der Vielfalt der
Anwendungen.
Das Verhältnis von Theorie und Praxis
Dennoch kommt es immer wieder zu einer Minderschätzung soziologischer Erkenntnisse seitens der Praxis und damit zu einer potenziellen Abwertung
der Soziologie, auch wenn sie als anwendungsorientierte Fachwissenschaft auf empirischer Grundlage betrieben wird. Ein Grund hierfür liegt in der oft scharfen Trennung von Theorie und Praxis, die Absolventen als Divergenz von Prüfungswissen und Berufsanforderungen erfahren.
Im soziologischen Forschungsprozess werden Primärerfahrung und Reflexion getrennt. Die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit wird gleichsam halbiert, und zwar einerseits in Tatsachen, die subjektiv im
lebensweltlichen Sinnkontext erfahren werden, andererseits in begrifflich konstruierte Artefakte im Kontext theorieorientierter Begründungen. Der Wirklichkeitsbezug der Soziologie ist also problematisch, wenn es nicht zu einer Synthese von Erklärungsansatz und Erfahrungswissen kommt.
Dann sind Fehlentwicklungen möglich, die das Verhältnis von Theorie und Praxis verzerren. Hierfür zwei Beispiele: Mit Anspruch auf hohen Allgemeinheitsgrad kann die These von der Individualisierung moderner Lebensstile formuliert werden, vielleicht von ein paar Beispielen illustriert,
ohne dass eine Rückbindung an nachvollziehbare soziale Vorgänge erfolgt. Ein derartiges abstraktes Argumentieren gilt bisweilen als Merkmal der Gelehrsamkeit. Seine Qualität hängt allerdings von der Prägnanz begrifflicher Distinktionen ab und selbstverständlich von der Problemsicht.
In der Soziologie kommt es nun darauf an, Argumente auf Daten zu beziehen, ihnen also eine Erfahrungsgrundlage zu geben. Dieses Erfordernis wird häufig verfehlt. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit komplexen Konstrukten wie Kapitalismus, Rationalisierung, Entfremdung, Klasse, Milieu, Feminismus, um nur einige zu nennen. In Ansätzen zur Theoretisierung werden darüber hinaus laufend neue Begriffsbildungen in mehr oder weniger systematisierter Form angeboten, die den Überblick über Erkenntnisfortschritte außerordentlich erschweren. Es besteht die
Möglichkeit, sich über Probleme zu streiten, deren reale Entsprechung nicht einsichtig ist, und auch Problemen durch als Begriffsstreit kaschierte
Ausreden auszuweichen. Deshalb ist es so wichtig, die Begriffsbildung an wissenschaftlich kontrollierte Erfahrungen zu koppeln.
Geht man hingegen von empirischen Befunden aus, so ist eine weitreichende Arbeitsteilung nicht ungewöhnlich. Soziologische Tatbestände werden in
der Form von Datensätzen, z. B. über die Einstellungen einer Bevölkerungsstichprobe gegenüber Ausländern, gleichsam als Rohmaterial von spezialisierten Instituten bezogen. Mit Hilfe komplexer Rechenverfahren werden dann statistische Zusammenhänge zwischen verschiedenen Merkmalen dieser Informationsmengen ermittelt und beliebig modelliert. Dies führt schließlich etwa zu Aussagen wie derjenigen, dass die Akzeptanz von Ausländern auch vom jeweiligen Bildungsgrad abhängt. Derartige Formulierungen können produziert werden, ohne dass
seitens ihres Urhebers jemals die Begegnung mit einem Ausländer in einer konkreten Situation stattfand.
Dieser abstrakte Empirismus kann wissenschaftliche Aussagen begründen – oft in Form tabellierter Korrelationskoeffizienten – die entweder nicht lokalisierbar oder fiktiv sind. Dennoch gelten sie als verallgemeinerungsfähiges Wissen.
In beiden Fällen hat diese Vorgehensweise Konsequenzen: Der abstrakte Empirismus führt ebenso wie das abstrakte Argumentieren letztlich zu einer
Vernachlässigung des handelnden Menschen und schließlich zu einem Unverständnis der sinnhaften situativen Bindung sozialen Handelns und damit zum Verlust des Wirklichkeitsbezugs. Auf diese Weise verliert die Wissenschaft gleichsam den Boden unter den Füßen. Sie gerät zu einem freischwebenden selbstreferentiellen System – um einen Terminus von
Niklas Luhmann zu gebrauchen – das sich der Wirklichkeitskontrolle entzieht. An deren Stelle tritt Verfahrenskontrolle. Das produzierte Wissen bleibt somit an die spezifisch verkürzte Systemwelt wissenschaftlicher Verfahren bzw. an berufsspezifische Argumentationskonventionen gebunden.
Der sozialwissenschaftliche Erkenntnisprozess ist also zwischen der Scylla des abstrakten Argumentierens und der Charybdis des abstrakten Empirismus zu steuern und zwar, dies ist meine These, durch
Erfahrung und Einsicht, also letztlich durch Rückbindung an die gesellschaftliche Praxis. Der wissenschaftliche Fortschritt impliziert einen ständigen Kreislauf von Erkenntnissen, ihre Vermittlung und ihrer Anwendung, also von Forschung, Lehre und Praxis
Probleme der Professionalisierung
Inwiefern kann man also von „Soziologie als Beruf“ sprechen? Hierzu ist zunächst festzustellen, dass eineerworbene Hochschulqualifikation mit Zertifikat nur den Berufseinstieg ermöglicht, dass im Berufsleben selbst jedoch die tatsächliche Handlungskompetenz ausschlaggebend ist. George Strauss 1963 und dann Harold Wilensky 1964 haben den mehrstufigen
Prozess der Professionalisierung anschaulich anhand folgender Schritte beschrieben:
• Eine spezialisierte Erwerbstätigkeit beschäftigt den Menschen voll und sichert seinen Lebensunterhalt.
• Ausbildungsstätten (an den Hochschulen) werden aufgebaut, in denen engagierte Berufsangehörige als Lehrer tätig sind. So wird der Anspruch auf berufsspezifisches Expertenwissen begründet.
• Die Absolventen bauen einen Berufsverband auf, der die kompetenten Berufsangehörigen von den unfähigen zu trennen sucht. Der Zugang wird auf die Ausgebildeten beschränkt. Es werden ferner prestigetragende Tätigkeiten definiert und die schmutzigen Arbeiten abgestoßen. Die Berufsaufgaben werden autonom von den Berufsangehörigen ausgeführt.
• Der Verband versucht, die Unterstützung des Gesetzgebers zu erhalten: Wo der Kompetenzbereich nicht eindeutig ist, soll dieser den Titel schützen. wo
er eindeutig ist, soll die Berufsausbildung durch Unbefugte unter Strafe gestellt werden. Andererseits verpflichten sich die Berufssträger zur Identifizierung mit der Berufsrolle.
• Es wird ein code of ethics aufgestellt, der die wichtigsten Interaktionsbeziehungen regelt. Damit wird gesellschaftliche Verantwortung für die Berufsausübung übernommen. Gerade für die unter Konkurrenzdruck selbständig tätigen Sozialforscher ist dieser Aspekt besonders wichtig, wie ich als Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute erfahren habe.
Der Professionalisierungsprozess wird zwar durch interessenbezogene Strategien und Taktiken eingeleitet, aber erst durch gesellschaftliche
Anerkennung abgeschlossen.
Wo liegen nun die Probleme bei den Soziologen?
Hierzu ein paar absichtlich karikierende, also übersteigernde Bemerkungen. Wahrscheinlich sind Soziologen für einen demonstrativen und organisierungsfeindlichen Individualismus besonders anfällig, verbunden mit einem Geltungsstreben, das in jedem Kollegen vor allem den Konkurrenten sieht, den es herabzuqualifizieren gilt, und das die Erfolge anderer grundsätzlich neidet. Um einen Vorteil zu erhaschen, wird etwa bei der Konkurrenz um Drittmittel oft Unerfüllbares versprochen und auf Risiken und Nebenwirkungen nicht aufmerksam gemacht. Wenn
Solidarität gezeigt wird, dann ist sie bei vielen Soziologen leider auf „Paradigmen-Clans“ und weltanschaulich getarnte Seilschaften begrenzt. So
treten dann nicht nur die Frauen gegen die Männer (und umgekehrt), die Wiener gegen die Linzer (und umgekehrt), die Etablierten gegen die Jobsucher auf. Andererseits stellen sich viele auch mit Freude als Außenseiter in der Öffentlichkeit dar, laufen mit schickem Rucksack auf der linken Schulter und´ausgewaschenen Jeans durch die Wiener Innenstadt zu
einem Festempfang. Mit dem so genannten Establishment hat man grundsätzlich Berührungsängste. Lieber verkriecht man sich in informelle
Netzwerke, aus denen es dann, wie in schlecht geplanten WGs und übereilt geknüpften Beziehungen, kaum ein Entrinnen gibt. So wird von diesen
Soziologen, die es eigentlich besser wissen müssten, verkannt, dass ihr Beruf erst durch verpflichtende Normbindung funktionaler, aber auch extrafunktionaler Qualifikationen zu einer gesellschaftlichen
Institution wird. Wirklichkeitssinn, Urteilsreife und soziale Kompetenz sind für Soziologen im Beruf unerlässlich. Sonst erscheinen sie der Umwelt als das Problem, dessen Lösung sie angeblich anstreben.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich auch an meinen amerikanischen Professor, William Foote Whyte, der uns einmal sagte, Soziologie sei nichts für heiße Herzen und einen weichen Kopf. Das habe ich dann schmerzlich erfahren, wenn ich mich zu sehr in Situationen engagierte, die etwas mehr Abstand erfordert hätten. Professionalität ist also auch ein Mittelweg zwischen idealistischem Aktionismus und rigorosem Vorteilskalkül.
Unklarheiten der Berufsfindung
Aber nicht alle Berufsprobleme sind den Soziologen selbst anzulasten. Sie müssen in einem unübersichtlichen Umfeld tätig werden, das um so schwieriger wird, je mehr man sich von den Bereichen mit technisch fixierter und oft auch rechtlich normierter Systemsicherheit entfernt, also in die ungeregelten Problemzonen der Handlungsfelder vordringt. In vieler Hinsicht sind Soziologen Berufspioniere. Sie erproben oft die Anwendbarkeit
sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden dort, wo man auf eingefahrenen Wegen nicht weiterkommt.
Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass die im Soziologiestudium erworbene Kernqualifikation für viele Tätigkeiten nicht hinreichend ist und z.B. durch anwendungsorientierte, nicht bloß formale Wirtschafts-, Rechts- und Sprachkenntnisse ergänzt werden muss. Erika Jaklitsch-Schmidt stellte 1989 anhand der Umfrageergebnisse bei 104 österreichischen Soziologen fest, dass 81 % angaben, ihre für die Berufstätigkeit erforderlichen Kenntnisse nicht im Studium erworben zu haben (166). Erst im breiteren Kontext der Sozialwissenschaften wird der Stellenwert der Soziologie manifest.
Außerdem fehlt zunächst die situative Erfahrung, die für Problemlösungen in der Praxis ausschlaggebend werden kann, sich aber erst in einem Prozess
lebenslangen Lernens akkumuliert. Die praktische Anwendbarkeit des an der Hochschule vermittelten Lehrstoffs wird schon aus diesem Grunde immer
begrenzt sein. Andererseits wird oft verkannt, dass Erfahrung erst vor dem Hintergrund eines erweiterten Problemhorizonts zu Erkenntnissen und Einsichten führt.
Weil der Bereich der Soziologie so umfassend ist, fällt es dem Soziologen als potenziellem Generalisten oft schwer, eine realistische Berufsperspektive zu
entwickeln, die immer zwangsläufig mit einer Eingrenzung des Handlungsfeldes und entsprechender Spezialisierung verbunden ist. Die Erkundung der persönlichen Eignung und Neigung ist ein oft schmerzlicher Lernprozess . Eine Konsequenz daraus ist die Förderung von Praktika schon während des Studiums und die Bereitstellung von Trainee-Phasen beim Berufseinstieg.
Karrierestrategien
In den Berufsinformationen der deutschen Bundesagentur für Arbeit heißt es: „Beschäftigungsmöglichkeiten finden Soziologen und Soziologinnen (Uni) in der öffentlichen Verwaltung, bei Parteien und Verbänden sowie in der Markt- und Meinungsforschung. An Fachhochschulen und Universitäten nehmen sie Lehr- und Forschungsaufträge im Bereich der Soziologie wahr. Ferner sind sie in Fachredaktionen von Tageszeitungen oder Verlagen sowie in Rundfunk- und Fernsehanstalten beschäftigt. In Betrieben aller Wirtschaftszweige übernehmen sie Aufgaben im Personalwesen, in Werbe- und Kommunikationsabteilungen. Ein weiteres Tätigkeitsfeld stellen Organisationen für Entwicklungszusammenarbeit dar.“
Hinzugefügt werden kann noch die freiberufliche Beratungstätigkeit, die oft ein Ergebnis des Outsourcing größerer Wirtschaftsorganisationen und
Verwaltungseinheiten oder einer vergeblichen Suche nach fester Anstellung ist.
Josef Hochgerner hat 1989 versucht, die soziologischen Berufe auf den Hauptarbeitsbereich Information zurückzuführen und dementsprechend
zwischen informationsproduzierenden, -verarbeitenden und -vermittelnden Berufen unterschieden (200). Hinzuzufügen wären allerdings auch berufliche Anwendungsfelder von sozialwissenschaftlichen Informationen.
Je nach dem gewählten Berufsfeld stellt sich der Karriereverlauf anders dar. Entscheidend ist immer ein realistischer Ausgleich von subjektiven Ansprüchen und objektivierten Anforderungen. Der Trend zu Tandemkarrieren der Lebenspartner und deren gleichgewichtige Einbindung in familiäre Pflichten führt zu Verschiebungen der Präferenzen, die sich
nicht mehr vollständig aus der Berufssituation ableiten lassen und damit auch den Aufstiegshorizont in der Regel deutlich begrenzen. Priorität hat aus der Sicht des Berufsträgers die Stimmigkeit der Lebensführung. Aber in den Anforderungssituationen, die für rationalisierte Arbeitsorganisationen typisch sind, werden die Systemzwänge oft unausweichlich. Gerade aus ihrer professionellen Perspektive heraus sind die Soziologen angesichts dieser Herausforderungen in besonderem Maße aufgefordert, ihrerseits zur so
genannten „Humanisierung des Arbeitslebens“ beizutragen, und zwar weniger programmatisch als mit einfühlender Problemsicht und Gestaltungskompetenz. Ein konkretes Beispiel ist die Doppelbelastung berufstätiger Mütter.
Zwischen Beruf und Berufung
Es gibt eine minimalistische Auffassung von „Beruf“, für die er „nichts anderes (ist) als der symbolische Ausdruck für (die) `Warenbedeutung´ der Menschen zueinander“ (Beck/Brater/Daheim 1980, 216f.). Der Beruf wird aber auch als Kulturform der Arbeit erlebt und gestaltet. Dies erklärt, warum unter gleichen Arbeitsmarktbedingungen Berufseinstellungen sehr
unterschiedlich sein können, je nach der sozialkulturellen Prägung von Bedürfnissen, Interessen und Werten.
Es ist verständlich, dass die Berufsorientierung der Hochschulabsolventen zunächst von der Perspektive der Soziologie als wissenschaftlichem Fach und weniger von der Soziologie als möglichem Berufsfeld geprägt wird. So wird eher selten antizipiert, dass es Soziologie als Beruf im Sinne der Berufsbezeichnung „Soziologe“ allenfalls in Ansätzen gibt. In den Leistungsorganisationen der Praxis treten an ihre Stelle Rang- und Funktionsbezeichnungen, die aber auch Mitarbeiter mit anderem Ausbildungshintergrund teilen. Es ist üblich, dass Soziologen in Teams integriert werden und sowohl interdisziplinär als auch praxisorientiert Projekte bearbeiten. Das Berufsbewusstsein ändert sich und wird weniger
partikulär.
Den außeruniversitär beruflich tätigen Soziologen fehlt häufig der kollegiale Zusammenhalt. Vorrang sollte deshalb auch die nachhaltige Entwicklungvon
Beziehungsnetzen mit Einschluss der Zentren soziologischer Lehr- und Forschungsaktivitäten sowie die wissenschaftliche Weiterbildung haben.
Mit dem Perspektivenwechsel nach Berufseintritt können sich aber auch tiefgreifende Identitäts- und Motivationsprobleme verbinden. Die im Studium erworbene Eingangsqualifikation prägt zweifellos die spätere berufliche Identitätsfindung, aber nur in dem Maße, in dem auf einen Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis Wert gelegt wird. In ihm sollte es keinen
grundsätzlichen Vorrang geben, wie dies kürzlich auch Herbert Altrichter, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler (2005) gefordert haben. Zum Dialog müssen beide Seiten beitragen, vor allem aber die Berufsträger selbst motiviert werden. Dabei kommt es nun häufig zu Widersprüchen zwischen Erkenntnis-, Gestaltungs- und Verwertungsinteressen.
Aus dem idealistischen Sozialpionier kann rasch der vorteilsmaximierende Anpassungsvirtuose werden. Umgekehrt entdeckt mancher erst in der Praxis die Notwendigkeit einer umfassenderen Einsicht in Wirkungszusammenhänge, die bei oberflächlicher Routine verborgen bleiben.
Wer Soziologie als Beruf anstrebt und ausübt, tut dies angesichts der moderaten Beschäftigungs- und Aufstiegschancen nicht in erster Linie, um möglichst rasch zu Wohlstand und Prestige zu kommen. Aufgeschlossenheit gegenüber sozialen Fragen und Bereitschaft zum Engagement müssen ebenfalls vorhanden sein. Hierzu fühlen sich offensichtlich immer mehr Frauen berufen, wie der wachsende Anteil der Soziologie-Studentinnen zeigt. Als Konsequenz wird sich voraussichtlich in absehbarer Zeit auch das Berufsmilieu der Soziologen ändern.
Unsere bürokratisierte und technisierte Gesellschaft braucht aber die gerade von Frauen stärker vertretenen personbezogenen Grundhaltungen auch in der Praxis, als Gegengewicht gegen eine schrankenlose Versachlichung und Ökonomisierung sozialer Beziehungen.
Wer als Soziologe oder Soziologin im Beruf etwas bewirken will, braucht zunächst ein gutes Rüstzeug von Kenntnissen und Fertigkeiten, das in einem
Prozess lebenslangen Lernens erneuert und ergänzt werden muss. Letztlich sind nicht Zertifikate, sondern Handlungskompetenzen ausschlaggebend. Bei der Fort- und Weiterbildung kommt den Universitäten eine bisher kaum wahrgenommene Aufgabe zu. Wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Erfahrungen müssen aber auch symbiotisch verknüpft
werden. Dann erst entsteht die humane Einsicht, ohne die eine Gestaltung des sozialen Lebens allenfalls effiziente Manipulation bleibt.
Literatur:
Altrichter, H./Kannonier-Finster, W./Ziegler, M. (2005): Das
Theorie-Praxis-Verhältnis in den Sozialwissenschaften im Kontext
professionellen Handelns, in: Österr. Zeitschr. f. Soziologie 30/1,
22-43.
Beck, U./Brater, M./Daheim, H.J. (1980): Soziologie der Arbeit
und der Berufe. Reinbek: Rowohlt.
Fürstenberg/F. (1989): Soziologie – die fragwürdige Profession, in:
Soziale Welt 40, 325-329.
Fürstenberg, F. (2000): Berufsgesellschaft in der Krise. Berlin:
edition sigma.
Fürstenberg/F, Mayer, K. (1975): Die Berufseingliederung der
Absolven ten der Hochschule für Sozial – und
Wirtschaftswissenschaften Linz 1969-1974. Wien: Schriftenreihe des
Bundesministeriums für soziale Verwaltung 1/75.
Haller, M. in Zusammenarbeit mit E. Fischer und A. Pinter (Hrsg.)
(1989): Berufsfelder von Soziologen und Soziologinnen im
außeruniversitären Bereich. Graz: Österreichische Gesellschaft für
Soziologie.
Hochgerner, J. (1989): Tendenzen der Professionalisierung. Über
die Entwicklung soziologischer Berufsfelder außerhalb der
Universität. In: Haller u.a., 189-209.
Jaklitsch-Schmitt, E. (1989): Zur Situation österreichischer
SoziologInnen im Beruf. Ergebnisse einer empirischen Studie. In:
Haller u.a., 106-170.