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11. November 2009

WER LÄSST SICH SCHON INTEGRIEREN?

Filed under: Alfred Rammer — soziologie heute @ 09:36
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– Die doppelte Integrationsproblematik moderner Gesellschaften

von Alfred Rammer (Public Observer, 27. 7. 2006)

 

Der Umgang mit fremden Kulturen – zumal mit
muslimischen – ist spätestens seit den Terroranschlägen
in den USA 2001 allerorts ein heiß
umstrittenes Thema. Schön langsam setzt
sich selbst in Ländern wie Deutschland oder
Österreich die Erkenntnis durch, dass man
ungeachtet anders lautender Versicherungen
längst de facto zu einem Einwanderungsland
geworden ist.
Vor diesem Hintergrund aber verschieben sich
Horizonte, es gilt, Perspektiven für den Umgang
von Angehörigen anderer Kulturen innerhalb der
eigenen Gesellschaft zu entwickeln, nicht mehr
Außenpolitik sondern Innenpolitik ist gefragt. Es
ist nicht verwunderlich, dass Menschen, die über
Generationen von ganz anderen Prämissen ausgegangen
sind, den Umschlag der realen Verhältnisse
zwar theoretisch (und selbst dies mit Würgen)
zur Kenntnis nehmen, in ihren emotionalen
und weltanschaulichen Dimensionen jedoch dieser
eingestandenen Wirklichkeit hinterher hinken.
Die Folgen sind Ablehnung, Ausländerfeindlichkeit,
irrationale Abwehrbemühungen. Und
selbstredend finden sich in allen Staaten politische
Organisationen und Parteien, die die entsprechenden
Stimmungslagen als leicht zu erntendes
Stimmreservoir erkennen. Dem Volke
auf’s Maul schauend verstärken sie die grassierenden
Vorurteile, bauen zum Teil absurde Bedrohungsszenarien
auf und bieten messianistisch
anmutende einfache Lösungen. Dabei gäbe es
der Probleme wahrlich genug. Doch wird es nicht
reichen, den Blick nur in eine Richtung zu schärfen,
sich nur damit zu beschäftigen, welche Anforderungen
man denn an die hier lebenden Ausländer
stellen muss.
Allzu schnell erliegt man der Versuchung, nicht
mehr bloß zu fordern, was für ein gedeihliches
Miteinander notwendig ist, stattdessen wird das
Fordern Selbstzweck, und erzeugt wird ein Verhältnis
zwischen Alteingesessenen und Hinzugekommenen
als Über- und Unterordnung. Wenn
sie schon „hier bei uns“ leben wollen, so heißt
dann die Devise, sollen sie sich eben auch „
integrieren“. Doch erweist sich diese Integrationsforderung
bei näherem Hinsehen nicht selten als
Euphemismus, als schieres Bedürfnis, den anderen
spüren zu lassen, wer hierzulande das Sagen hat. Da reicht es dann auch nicht, wenn eine
Gruppe Muslime unter Wahrung sämtlicher in Österreich
geltender Regeln privat für einige Stunden
ein öffentliches Freibad mietet, um dort nach
eigenen Vorstellungen zu baden – schließlich
muss man den Anfängen wehren …
Bei aller Berücksichtigung der verschiedenen
Umstände, die die infantile Ausländerfeindlichkeit
und -angst schüren – prekäre eigene soziale Lage,
drohende Arbeitslosigkeit, demagogische Politiker
usw. – ganz aus der Verantwortung wird
man den einfachen Bürger wohl auch nicht entlassen
können. Immerhin leben wir im 21. Jahrhundert
und die europäischen Gesellschaften
verstehen sich als aufgeklärte Gesellschaften.
Etwas mehr kritische Selbstreflexion wäre vonnöten,
klarere Vorstellungen davon, wer und was
man in dieser Gesellschaft und was diese selbst
denn eigentlich sein will und soll und kann, wären
zu entwickeln.
Vor wenigen Wochen veröffentlichte das Ministerium
für Inneres die Zusammenfassung einer Studie,
die die Situation der Muslime in Österreich
beleuchtet. Über die wissenschaftliche Qualität
der Arbeit lässt sich wohl trefflich streiten, zumal
sie ja nicht zur Gänze vorliegt. Fraglich mag auch
sein, ob der Nürnberger Richter und Islamexperte
Mathias ROHE tatsächlich die richtige Adresse
für die spezielle Fragestellung ist. Doch spielen
derartige Zweifel für die hier präsentierten Überlegungen
keine Rolle. Mindestens ebenso interessant
erscheint mir die Art und Weise, wie die Ergebnisse
in der Öffentlichkeit rezipiert wurden.
Gefragt soll hier bloß danach werden, ob die Inhalte
der Arbeit tatsächlich das hergeben, wofür
man sie offensichtlich zu verwenden gedenkt,
nämlich als Anlass, die Alarmglocken in Österreich
noch ein wenig lauter schellen zu lassen.
Gefragt soll in einem weiteren Gedankengang
danach werden, was denn diese ominöse „Integration“
eigentlich sei, die man so heftig von den
Ausländern (in bestimmter Hinsicht und in vernünftigen
Grenzen zurecht) fordert und die man –
nicht zuletzt dank besagter Studie – bei selbigen
so schmerzlich vermisst.
Und hier wird in einem dritten Gedankengang erkennbar,
woran das Bemühen um eine befriedigende
Bewältigung der Ausländerproblematik
krankt, nämlich an der mangelhaften Trennung
zweier Problemkreise: der Integration von Min-derheiten einerseits, jener der Mehrheitsgesellschaft
selbst anderseits.
1. Die Integrationsstudie
Mathias ROHE verwendet für seine Studie
Daten aus der Volkszählung in Österreich 2001,
der Inhaltsanalyse tagesaktueller Medienberichte
in Österreich sowie verbreiteter türkisch- und arabischsprachiger
Printmedien; außerdem stützt er
sich auf zwei repräsentative bundesweite Telefonumfragen
unter jeweils 1000 Österreichern in
den Erhebungszeiträumen Ende November bis
Mitte Dezember 2005 (Leitfadeninterviews) und
Jänner – Februar 2006 (100 ausführliche Leitfadeninterviews).
Die Analyse österreichischer Medien führt Rohe
zur Feststellung, dass das medial schon länger
behandelte „Ausländerproblem“ während der letzten
Jahre zunehmend zum „Islamproblem“ wurde.
Das Thema Integration wurde also insgesamt immer
weniger eigenständig als vielmehr im Zusammenhang
mit weltweiter Gefahrenprävention erörtert.
Auch das noch 1997 im Vordergrund stehende
Thema Bildung/Erziehung verschwindet zunehmend.
Lokal vorhandene Probleme werden
mit Problemen mit der islamischen Welt insgesamt
zunehmend vermischt.
Dass es sich für die österreichische Gesellschaft
um ein durchaus überschaubares Problem handelt,
ergeben die Daten aus der Volkszählung in
Österreich von 2001: 8,9 % der österreichischen
Wohnbevölkerung sind Ausländer, knapp
340.000, also 4,2 % der Gesamtbevölkerung,
sind Muslime, die hauptsächlich aus Serbien/
Montenegro (18,7 %), Türkei (17,9 %) und Bosnien/
Herzegowina (15,2 %) kommen. Fast alle
Türken, die meisten Staatsangehörigen Bosnien/
Herzegowinas und wohl auch ein gewisser Teil
der Menschen aus Serbien/Montenegro dürften
Muslime sein. Die charakteristischen Richtungen
des Islam in der Türkei (theoretisch laizistische
Ausprägung, faktisch gemäßigter sunnitischer
Staatsislam sowie Alevitentum mit in der Türkei
stark beschränkter Religionsfreiheit) und auf dem
Balkan (weitgehend liberaler bis gemäßigttraditioneller
Islam mit vereinzelten Radikalisierungstendenzen
im Zuge des Bürgerkriegs) prägen
also das Bild des Islam von Österreich. Je
nach Bundesland schwankt der Anteil der Muslime
unter den Ausländern zwischen knapp einem
Drittel und etwas über der Hälfte.
Die Probleme fasst ROHE wie folgt überblicksartig
zusammen: Die muslimische Präsenz in Österreich
und in weiten Teilen Europas beruht auf Migration jüngeren Datums. „Gastarbeiter“ mit
meist sehr niedriger formaler Bildung und Flüchtlinge
prägen das Bild, viele von ihnen befinden
sich am unteren Rand der Aufnahmegesellschaften.
Gerade hier treffen zwei sehr gegensätzliche
Kommunikationskulturen aufeinander. Orientalische
Kommunikation – geprägt durch Vermeidung
offener, sachlicher Kritik – wirkt auf Europäer
häufig unaufrichtig. Umgekehrt wirkt die europäische
„Offenheit“ oft verletzend. Innerhalb vertrauter
Formen sind die Menschen orientalischer
Prägung im zwischenmenschlichen Umgang sehr
herzlich, offene Ablehnung führt zu Trotzreaktionen.
Hier liegt eine der wesentlichen Ursachen
der mittlerweile unter jungen Türken oder Albanern
herausgebildete, teils betont aggressive Jugendkultur.
„Nach langjähriger Beobachtung über die hier
vorliegende Analyse hinaus wagt der Verfasser
die Tendenzaussage, das der übersteigerte Nationalismus
bei vielen Türken nicht weniger integrationshinderlich
ist als religiöser Fanatismus
(nicht zuletzt militante laizistische Nationalisten
sind für einen Grossteil der vergangenen und gegenwärtigen
Menschenrechtsverletzungen in der
Türkei verantwortlich).“
Solange in der europäischen Öffentlichkeit Muslime
bzw. der Islam vorwiegend als Problem wahrgenommen
und angesprochen werden, dürfte
sich – so vermutet der Autor – die Isolation auf
beiden Seiten eher verstärken. Je mehr gemäßigte
muslimische Stimmen auch in der Öffentlichkeit
wirken können, je mehr Muslime beruflich
und gesellschaftlich feste Verankerung finden
und sich an arrivierten Multiplikatoren orientieren
können, desto eher werde dauerhafter gesellschaftlicher
Friede zu erreichen sein. Bei all dem
schreibt er übrigens der Religion keine entscheidende
Bedeutung zu. Sie könne allerdings ideologisch
genutzt und bei Unzufriedenen zur Mobilisierung
für den Aufbau einer „Gegengesellschaft“
dienen.
ROHE zieht folgende Schlussfolgerungen:
„Persönliche Erfahrungen und Einschätzungen
der befragten Österreicher und Muslime hinsichtlich
des Zusammenlebens lassen die vereinfachte
Aussage zu, wonach ein insgesamt eher kontaktarmes,
friedliches, aber von einiger Distanz
geprägtes Nebeneinander besteht – ‚Integration’
auf niedrigem Niveau. Diese vereinfachte Aussage
muss allerdings gruppenspezifisch relativiert
werden, sowohl im Hinblick auf die Österreicher
insgesamt als auch auf die Muslime. Beide Gruppen
sind sehr heterogen, und in beiden Gruppen findet sich eine grundsätzlich verständigungsbereite
oder zumindest neutrale Mehrheit. Allerdings
sind gewichtige Gruppen mit jeweils erheblicher
Distanz zum Gegenüber (Muslime bzw. österreichische
Gesellschaft) nicht zu übersehen.“
„Restriktive Maßnahmen gegen Extremismus und
Unterhöhlung werden auf breite Akzeptanz stoßen,
auch unter vielen Muslimen. Solche Akzeptanz
setzt andererseits die Bereitschaft zur Förderung
und effektiver Rechtsgewährung dort
durch, wo entsprechende Ansprüche bestehen
bzw. wo Fördermaßnahmen Integration effizient
bewirken können.“
„Die Integration der Muslime in die österreichische
Gesellschaft (nicht: die Assimilation an sie!)
ist noch bei weitem nicht erfolgreich abgeschlossen.
Es dominiert das weitestgehend friedfertige
Nebeneinander mit einer noch verbreiteten gegenseitigen
Distanz. Die Mehrheit unter den Österreichern
insgesamt wie auch unter den Muslimen
bringen nach ihren Grundhaltungen gute
Voraussetzungen für gelingende Integration mit.
Allerdings finden sich auf beiden Seiten gewichtige
Gruppen, die hierfür nur schwer zu gewinnen
sind. Ein gewisses Maß an Segregation wird daher
wohl auf lange Zeit hinzunehmen sein. Segregation
ist aber ein in jeder Gesellschaft durchaus
übliches Phänomen und als solches nicht bedenklich.
Deshalb ist auch der verbreitete Begriff
der ‚Parallelgesellschaft’ noch zu wenig konturiert,
um aussagekräftig zu sein.“
„Das größte Gefährdungspotential dürfte … dort
liegen, wo wirtschaftliche Probleme, ein erhebliches
Maß an innerer Distanz, Unsicherheit bzw.
Überlegenheitsgefühlen und intensive Einbindung
eine ethnisch oder religiös ausgerichtete Infrastruktur
zusammentreffen.“
ROHE zeichnet alles in allem kein besonders
dramatisches Bild von der Situation der Muslime
in Österreich. Im Duktus durchaus wohlwollend
verweist er auf die verschiedenen Probleme und
Gefahren und zeigt sich vorsichtig optimistisch,
was die Möglichkeiten der Bewältigung derselben
betrifft. Von überbordender und gefährlicher Integrationsfeindlichkeit
eines beträchtlichen Teils
der Immigranten ist nicht nur nicht die Rede, es
bedarf kühner Phantasie, um derartige Deutungen
zu entwickeln. Dass sich selbige dennoch
jedenfalls teilweise durchsetzen, lässt vermuten,
dass diese Gesellschaft keine klaren Vorstellungen
davon hat, woraufhin zu integrieren ist.

2. Integration
Emile DURKHEIM folgend ist zu unterscheiden
zwischen zwei Dimensionen sozialer Integration,
nämlich der negativen und der positiven Solidarität,
denen aus rechtsphilosophischer Sicht negative
und positive Freiheit korrespondieren.
Wenngleich man die Konzepte der Klassiker der
Soziologie nicht unmittelbar auf die Gegenwart
anwenden kann, empfiehlt sich doch, an diese
anzuschließen. Nicht nur gelten jene nicht umsonst
als Klassiker, sie machten sich auch um die
Entwicklung der soziologischen Theorie und Praxis
in unvergleichlicher Weise verdient und lieferten
Erkenntnisse, hinter die nicht straflos zurückzufallen
ist; die von der Tradition völlig unbelastete
Bearbeitung gesellschaftlich relevanter Themen
schafft zudem terminologischen Wildwuchs,
der mehr verdeckt als freilegt. Freilich darf man
es nicht beim bloßen Rezitieren klassischer Theorien
oder Theorieelementen belassen, vielmehr
gilt es zu prüfen, ob und wie weit selbige auch die
jeweilige Gegenwart erhellen können.
Negative Solidarität bedeutet eine Akkordierung
der Handlungsrechte von Personen in einer Weise,
die Konflikte vermeidet. Der eindeutige Anspruch
auf Eigentum vermeidet den Streit um die
Nutzung desselben. Jede konfliktfreie Bestimmung
von Handlungsrechten drückt eine negative
Solidarität aus, sie gewährleistet, dass sich die
Menschen nicht gegenseitig ins Gehege kommen.
Möglich ist diese negative nur durch das
Gegenstück der positiven Solidarität. Diese besteht
in der gegenseitigen Anerkennung jener
Rechte und in der gemeinsamen Unterhaltung
von Rechtsinstanzen, die über die gegenseitige
Respektierung der Rechte wachen.
Dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis verweist
auf die Irreduzibilität der beiden Dimensionen.
Die eine ist ohne die andere nicht zu haben.
Ein gedeihliches Miteinander der Menschen in
einer Gesellschaft setzt also voraus, dass positive
wie negative Solidarität in ein möglichst optimales
Gleichgewicht zu bringen sind, ein Gleichgewicht
freilich, das stets prekär bleibt und welches
unter Bedachtnahme sich ändernder Rahmenbedingungen
immer wieder neu einzustellen
ist.
Richard MÜNCH deutet „negative Integration“
in Bezug auf die europäische Integration und die
Öffnung des Weltmarktes als die Form der Integration,
die sich aus dem Abbau von Handelshemmnissen
ergibt. „Positive Integration“ meint dabei das staatlich-regulierende Eingreifen in die
Marktbeziehungen zwecks Kontrolle unerwünschter
Nebeneffekte.
Negative Integration wie negative Solidarität beruhen
also auf der Gewährung privater Freiheitsrechte,
positive Integration und positive Solidarität
stützen sich auf Kooperation zum Zweck der gemeinsamen
Gestaltung der Handlungsräume.
Die positive Solidarität beinhaltet stets eine Form
der Zusammenarbeit, etwa die gegenseitige Anerkennung
von Handlungsrechten, die Bereitschaft,
Konflikte nach rechtlich festgelegten Verfahren
friedlich zu bewältigen sowie rechtliche
Instanzen, die Regelabweichungen erfolgreich
sanktionieren, gemeinsam zu unterhalten. Das
Integrationsmedium der positiven Solidarität ist
das Recht.
Andere Formen positiver Solidarität sind von der
rechtlichen zu unterscheiden: die kollektive Verbundenheit,
die sich etwa in dichter Arbeitsteilung,
in gemeinsamem republikanischem Bürgersinn,
in enger sozialer Zusammenarbeit und gemeinsamer
kultureller Lebenswelt äußert; die Bereitschaft,
den erwirtschafteten Wohlstand mit allen
Mitgliedern der Gesellschaft zu teilen; der
Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum und
der Vorrang des eigenen Kollektivs gegenüber
anderen Kollektiven. Das Integrationsmedium
dieser „emotionalen Solidarität“ ist das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Je umfassender die einzelnen Formen der positiven
Solidarität verwirklicht werden, desto stärker
ist eine Gesellschaft integriert. Je stärker die Formen
„emotionaler Solidarität“ ausgeprägt sind,
desto geringer fällt die persönliche Wahlfreiheit
aus. Zuviel soziale Integration schließt also eine
Gesellschaft nach außen ab, engt die individuellen
Handlungsspielräume ein und unterdrückt Innovationen.
Zuwenig soziale Integration wiederum
lässt keine Kooperation aufkommen, wo sie
benötigt wird, führt zu einem Mangel an Infrastrukturen,
überlässt die weniger Leistungsfähigen
sich selbst und erzeugt Krisenherde der Entfremdung,
Hoffnungslosigkeit und Anomie
(Regellosigkeit), die sich in Kooperationsverwei-gerung, Zynismus, Leistungsverweigerung und
Kriminalität äußern.
In der Moderne wurde der Nationalstaat zur zentralen
Einheit einer starken sozialen Integration
mit entsprechender Einbettung der negativen in
eine umfassende positive Solidarität. Die Nation
ist dabei bestimmbar als eine historisch gewachsene
oder politisch konstruierte Gemeinschaft mit
einem Zusammengehörigkeitsgefühl, das nach
innen Differenzen wischen kleineren Gemeinschaften
überwindet und sich nach außen gegenüber
anderen Nationen abgrenzt. Als Staat ist ein
Herrschaftsverband, der für ein bestimmtes Territorium
erfolgreich das Gewaltmonopol beansprucht,
zu verstehen.
Der Nationalstaat ersetzt nicht nur partikulargemeinschaftliche
Solidarität durch Recht, er
schafft auch eine neue solidarische Einheit. Mit
den Worten von Richard MÜNCH „Nationale Solidarität
ist die nicht-rechtliche Grundlage einer
sonst durch das Recht integrierten Gesellschaft,
so wie das Recht die nicht-kontraktuelle Grundlage
des Vertrags ist … und der Vertrag das bindende
Element der arbeitsteiligen Gesellschaft
mit ihrer marktwirtschaftlichen Ordnung.“ Die auf
wachsender Arbeitsteilung beruhende organische
Solidarität (DURKHEIM) wurde in den Wohlfahrtsstaaten
in eine ausgeprägte mechanische
Solidarität eingebettet. Die mechanische Solidarität
äußert sich im Grad der Marktunabhängigkeit
des individuellen Lebensstandards.
Die internationale Arbeitsteilung überwindet den
tödlichen Kampf um knappe Ressourcen und wird
zur Grundlage der grenz-überschreitenden Integration.
Jenseits der global wachsenden Inklusion
der Menschen in die Erwerbsarbeit ist aber soziale
Integration – jedenfalls in vorerst präsentierter
Form – kaum mehr möglich.
Dies hängt nicht zuletzt mit dem Umstand zusammen,
dass das hohe Wohlstandsniveau und dessen
kollektive Teilung in den Wohlfahrtsstaaten
mit einem hohen Maß an Ungleichheit und der
Desintegration der Weltgesellschaft einhergingen.
Die Wohlfahrtsstaaten konnten ein hohes Maß
der mechanischen Solidarität von Inseln des
Wohlstands in eine immer mehr von grenzüberschreitender
Arbeitsteilung geprägten Welt retten,
doch je weiter sich der europäische Markt und
der Weltmarkt öffnen, desto weniger wird sich
dieser nationale Wohlstandsverbund in seiner
bisherigen Gestalt aufrecht erhalten lassen.

Die unabwendbare Standortkonkurrenz schlägt
von der nationalen auf die regionale, lokale und
individuelle Ebene durch und lockert so die nationalen
Bande der kollektiven Solidarität. Diverse
Sozialleistungen erweisen sich zunehmend als
Schwächung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit,
die Starken lassen sich weniger bereitwillig zu
Ausgleichszahlungen motivieren, weil sie jetzt
selbst härterer Konkurrenz ausgeliefert sind. Die
nationale Kollektivsolidarität wird schwächer und
differenziert sich stärker aus in reichere und ärmere
Regionen, Städte, Gemeinden, Schichten
und Berufsgruppen. „Die kosmopolitisch orientierte
Intelligenz wird zum Träger der erweiterten internationalen
Arbeitsteilung, die sich über die bisherigen
Schranken der nationalstaatlich organisierten
kollektiven Solidarität hinwegsetzt.“
Die Modernisierungsverlierer dagegen sehen den
Verlust nationaler Solidarität als Bedrohung für ihr
eigene Position und werden so zur Quelle nationalistischer
Gegenbewegungen gegen die Globalisierung.
Dies alles führt tendenziell auch dazu, dass sich
die Maßstäbe der Gerechtigkeit verändern.
Gleichheit soll sich weniger in gleichen Resultaten
trotz ungleicher Leistungen äußern, sondern
mehr in der proportionalen Entlohnung von Leistungen
und in gleichen Chancen im Wettbewerb
um Einkommen und Status. Und zunehmend findet
der Gedanke Widerhall, dass vom Steuerzahler
zu finanzierende Sozialleistungen nur denjenigen
zugute kommen sollen, die ihrer auch bedürfen.
Nicht ganz zu Unrecht gilt Richard MÜNCH als
der „amerikanischste“ der deutschsprachigen Soziologen.
Entsprechend sollten insbesondere
dessen Schlussfolgerungen mit Vorsicht behandelt
werden. Tatsächlich erweist sich, dass diese
gemessen an seinen sehr sorgfältig ausgearbeiteten
Gegenwartsanalysen in ihrer Stringenz
doch erheblich zurückbleiben. Weil das Ziel der
Argumentation – der Ausweis US-amerikanischer
Gesellschaftsordnung als die einzige Option –
schon feststeht, fallen Alternativen unter den
Tisch. Doch da es mir hier nicht um eine ausführliche
Diskussion sozialpolitischer Perspektiven zu
tun ist, mag MÜNCHS Ausblick als Anstoß für
weitere Debatten dienen:
Als Strategien zur Bewältigung der Herausforderungen
der Globalisierung kommen nach
MÜNCH Neoliberalismus, Rettung des Wohlfahrtsstaates
und Europäische Sozialintegration in Betracht. Alle drei beinhalten ihm zufolge Richtiges,
sie sind ihm aber zu einseitig und letztlich
unrealistisch. Bleibt als einzig realistische Strategie
eine vernünftige Kombination der drei. Die
Marktöffnungsstrategie gilt ihm als unvermeidlich
und in dem Umfang richtig, in dem Desintegration
und Anomie vermieden werden können. Diese
sucht die Strategie der Rettung des Wohlfahrtsstaates
in sozialverträglichen Grenzen zu halten.
Die Sozialintegration wird sich auf Fairness im
Sinne von Chancengleichheit konzentrieren müssen,
sie wird aber nicht gleiche Lebensbedingungen
schaffen können.

In dem Maße, in dem sich die Politik in der Gesellschaftsgestaltung
durch Gesetzgebung zurückhält,
eröffnen sich neue Spielräume eigenverantwortlicher
Lebensgestaltung, die die Menschen
häufiger in Konflikte über die Reichweite
ihrer Rechte geraten lässt. Entsprechend wächst
im Verhältnis zur Gesetzgebung die Bedeutung
der Rolle der Gerichte der Sozialintegration durch
Streitschlichtung, Gewährleistung rechtlicher
Gleichheit, Chancengleichheit und Fairness.
3. Die Integrations-Desintegrationsdynamik
heute
Regelmäßiges Wachstum, sozialstaatliche Sicherungen
und korporatistische Übereinkünfte zwischen
Interessengruppen nach 1945 vermittelten
den Eindruck, dass die Integrationsfrage gelöst
sei, ließen erwarten, dass das individuelle wie
das soziale Leben von immer weniger Desintegration
gekennzeichnet sei. Mittlerweile jedoch
zeichnet sich ab, dass sich angesichts der Ambivalenzen
sozialer Modernisierung die Integrationsproblematik
noch radikalisiert und sich längst
nicht mehr bloß für die „Ausländer“ stellt. Mittlerweile
stellt sich eine doppelte Integrationsfrage:
die Integration der Mehrheitsgesellschaft selbst
und die der Minderheiten.
Mittlerweile gibt es einige Ansätze, die Integrationsthematik
mehrdimensional zu betrachten. Sie
alle lassen vermuten, dass die Frage danach,
was die Gesellschaft zusammenhält, kaum befriedigend
beantwortet werden kann, es sei denn,
man stellt an derartigen Zusammenhalt dermaßen
bescheidene Ansprüche, dass man von einem
solchen eigentlich gar nicht mehr sprechen
kann.

Für Wilhelm HEITMEYER unterscheidet sich die
heutige Integrations- Desintegrationsdynamik von
früher in drei Punkten: Erstens wird die soziale,
ökonomisch-politische Entwicklungsrichtung immer
diffuser; zweitens sind die Fragen brisanter
Konfliktlinien jenseits politischer Ideologien in den
neuen ethnisch-kulturellen Konfrontationslinien
unbeantwortet; und drittens werden immer neue
Bevölkerungsgruppen in diese Dynamik hineingezogen,
so dass die Angst vor Desintegration zunimmt.
Einer der wesentlichsten Gründe dafür, dass heute
die Integrationsthematik so viel Aufmerksamkeit
erfährt, ist wohl dem Umstand geschuldet,
dass man angesichts fortgeschrittener Differenzierung
einer Gesellschaft auch die Notwendigkeit
höher Integration erwartet, andernfalls ja der
soziale wie auch persönliche „Gewinn“ abhanden
käme. Was brächte die durch kulturelle Pluralisierung
größer gewordene Geltung der jeweiligen
Interessen, wenn gleichzeitig die Wirksamkeit der
Regelung von Gegensätzen und Konflikten abnähme?
Nun sind die Versuche einer normativ neutralen
Konzeption sozialer Integration entweder gescheitert,
oder die Konzeption wird von Menschen,
ihren Bedürfnissen und Ängsten „entleert“
und nur noch sozialtechnologisch gedacht. Als
Alternative, die ich im Folgenden forcieren möchte,
bietet sich die Idee von der Gleichwertigkeit
der Menschen und der Gewaltfreiheit der Verhältnisse
und Beziehungen.
Ein Blick auf den Gebrauch des Begriffs Integration
macht schnell deutlich, dass selbiger recht
nachlässig und interessenorientiert verwendet
wird, ohne dass Rechenschaft darüber abgegeben
wird, warum und wozu man ihn auf bestimmte
Art und Weise in Anschlag bringt und vor allem
ohne darauf zu reflektieren, was dabei unter den
Tisch fällt. So wird Integration zumeist positiv
konnotiert, die Ambivalenz des Begriffs, die vorhandenen
Mechanismen der sozialen Kontrolle
und Zwänge und die damit verbundenen Herrschafts-
und Machtverhältnisse, werden für gewöhnlich
ausgeblendet. Auch die Gleichsetzung
von Stabilität und Integration oder Konfliktfreiheit
und Integration ist durchaus problematisch. Dementsprechend
wird Desintegration per se negativ
interpretiert.
Doch die einfache Gegenüberstellung von positiver
Integration und negativer Desintegration ist
nicht sehr hilfreich, denn die gesellschaftliche
Entwicklung befindet sich in einer wechselseitigen Integrations-Desintegrationsdynamik. Dagegen
gilt es, die Antriebskräfte von Ausformungen
der jeweiligen „hellen“ und „dunklen“ Seiten von
Integration und Desintegration gleichermaßen zu
berücksichtigen.
Falsch ist auch die Behauptung, dass nicht mehr
die hierarchische gesellschaftliche Aufteilung
von „oben“ und „unten“ maßgeblich sei, dass es
nun stattdessen um „in“ und „out“ gehe. Demgegenüber
ist festzustellen, dass in der funktional
differenzierten Gesellschaft die stratifikatorischen
Kategorien keineswegs geschliffen sind. Phänomene
sekundärer Differenzierung nach Geschlecht,
Hautfarbe, kultureller Zugehörigkeit
usw. werden mit neuen Bedeutungen versehen,
die zu immer veränderten Konstellationen von
Integration und Desintegration zugleich führen
können. Es gehen also in funktional orientierte
Konzeptionen auch stratifikatorische Elemente
wie z.B. Positionierungen im Staatsgefüge ein.

Empirisch lassen sich vielfältige Konstellationen
für unterschiedliche Personen und Gruppen feststellen.
Durch die Integrations-Desintegrationsdynamik
werden individuell, milieubezogen
oder entlang ethnisch-kultureller Zugehörigkeiten
komplexe Anerkennungsprozesse geformt,
womit soziale Bindung und politische Loyalitäten
erzeugt und stabilisiert werden oder selbige
erodieren und lösen sich auf. Die durch gesellschaftliche
Modernisierung hervorgerufenen Individualisierungsschübe
befördern neue Integrations-
wie Desintegrationsformen, und es stellt sich
die Frage, ob diese Dynamik in „Balance“ gehalten
werden kann. Innergesellschaftliche Modernisierungsprozesse,
die Globalisierung ökonomischer
Entwicklungen und die ethnisch-kulturelle
Partikularisierung lassen es zunehmend undeutlich
werden, welche Integrationsmodi und welche
Integrationsressourcen heute noch greifen.
Der Verlauf gesellschaftlichen Wandels hat mehrere
Integrationsmodi hervorgebracht. Heutzutage
kann, wie HEITMEYER zutreffend feststellt,
gesellschaftliche Bindung nicht mehr als die Auflösung
bzw. das Fehlen gesellschaftlicher Konflikte
gesehen werden, sondern als Regulation von
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Bewältigt
werden demzufolge gesellschaftliche (auch
ethnische) Auseinandersetzungen nicht durch
Überwindung, sondern durch das erfolgreiche Prozessieren von Konflikten, wodurch gesellschaftliche
Stabilität gesichert und die widerstreitenden
Standpunkte in einem für alle Beteiligten
akzeptablen Modus vivendi zusammengeführt
werden.
Während die soziologischen Klassiker davon ausgegangen
sind, dass die funktionale Differenzierung
der Gesellschaft die ethnischen Kategorisierungen
zum Verschwinden bringen würden, zeigt
sich heute ein Zunehmen ethnisch-kultureller
Auseinandersetzungen.

HEITMEYER nennt folgende anomische Entwicklungen
und Gewaltpotenziale, die sich erkennen
lassen:
!. Die Strukturkrise, die sich entlang der Differenzierung
gesellschaftlicher Teilsysteme feststellen
lässt. Dies führt zur Problementwicklung der stratifikatorischen
Positionierung bis hin zur Existenzgefährdung.
Wirtschaftliches Wachstum und
prosperitätsorientierte Politik verschärfen Ungleichheit.
Demokratieabbau bei Wohlstandserhaltung
für deutungs- und mobilisierungsfähige
Milieus scheint die fast unausweichliche Konsequenz
zu sein.
2. Die Regulationskrise, die davon herrührt, dass
durch die Pluralisierung von Werten und Normen
„Sinn“ und Verständigung abnehmen. Durch
die Pluralisierung von Werten und Normen erhöht
sich die Kontingenzerfahrung und somit auch die
Beliebigkeit, daneben wird der Kern der unstrittigen
Normen kleiner, der der umstrittenen dagegen
größer.
3. Die Kohäsionskrise, die sich in der Abnahme
von sozialer Anerkennung, Bindungen und Zugehörigkeiten
zeigt.
Und so kommt HEITMEYER zu dem Schluss:
„Ein Syndrom, das Desintegrationserfahrungen
und Ängste mit Delegitimierung von Normen und
der Kontingenz von Wertvorstellungen verbindet
sowie ihren Niederschlag sowohl in Vereinzelung
als auch in Re-Aktivierungen von Abgrenzungen
erfährt, hat weitreichende Folgen: die ‚Entsicherung’
von Konfliktpotentialen, und damit Gewaltlatenz
durch Gleichgültigkeit, geht in diesem
Syndrom einher mit der Absenkung von Gewaltschwellen und der Lenkung von Gewaltprozessen.“
4. Zusammenfassung
Gegenwärtig stehen die europäischen Gesellschaften
vor großen Umbrüchen. Die Probleme,
die sich mit einem vermehrten Zuzug von Ausländern
ergeben, sind tatsächlich vorhanden und
sollen hier keineswegs geleugnet werden, wenngleich
darauf verzichtet wird, diese ausführlich zu
behandeln oder gar einer Lösung zuzuführen.
Beleuchtet man nämlich den gegenwärtigen Diskurs
über die Integration von Fremden in die eigene
Gesellschaft so wird schnell ersichtlich,
dass sich selbiger über weite Strecken jedenfalls
in der breiten Öffentlichkeit von der Wirklichkeit
abgekoppelt hat. Der Beispiele ließen sich viele
finden, auf deren Aufzählung muss jedoch aus
Platzgründen verzichtet werden. Da werden dann
von den Fremden Anpassungsleistungen an Traditionen
und Üblichkeiten, die es so nicht oder
nicht mehr gibt, gefordert. Während man einerseits
gemeinhin einem überbordenden Individualismus
frönt und das Verdampfen von Solidarität
mit schicksalsergebenem Achselzucken zur
Kenntnis nimmt, bedient man sich der im großen
und ganzen allgemein geteilten Ablehnung von
Fremden gleichsam als Alternativquelle von Solidarität.
Freilich hat derartige Beruhigung auch ihren
Preis. Dieser besteht darin, dass unter der
Hand Prozesse in Gang gesetzt oder verstärkt
werden, die man eigentlich nicht wünscht und deren
Konsequenzen im nachhinein umso schmerzhafter
empfunden werden, sobald sie dann doch
einmal an die Oberfläche drängen.
Es ist höchst an der Zeit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Integrationsfrage nicht ein für allemal
gelöst, sondern angesichts sozialer Modernisierung
erneut und sogar verschärft aufgebrochen
ist und sich nun als eine doppelte stellt: als
Integration von Minderheiten einerseits und neuerdings
eben auch als Integration der Mehrheitsgesellschaft
selbst. Eben diese zweite wird mangels
Bereitschaft in der breiten Öffentlichkeit noch
viel zu wenig gesehen und thematisiert. Doch auf
Dauer wird es wohl nicht möglich und keinesfalls
dienlich sein, die Verwerfungen in einem Gebiet
mit Kurierungsanstrengungen im anderen zu bewältigen.
Noch so restriktive und jedenfalls
manchmal auch gehässige Maßnahmen gegen
Ausländer geben nicht genug her, um die Mängel
der Integration der Mehrheitsgesellschaft zu beheben.

Literatur
Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine
andere Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), 1997a: Was treibt die Gesellschaft
auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem
Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Bd. 1,
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997b: Was hält die Gesellschaft
zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf
dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft,
Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Münch, Richard, 1996: Risikopolitik, Frankfurt/M.: Suhrkamp,
1998: Globale Dynamik, lokale Lebenswelten. Der
schwierige Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 2001: Offene Räume. Soziale Integration
diesseits und jenseits des Nationalstaates, Frankfurt/
M.: Suhrkamp
Rohe, Mathias, M.A., 2006: Perspektiven und Herausforderungen
in der Integration muslimischer MitbürgerInnen
in Österreich. Executive Summary, Erlangen-Wien:
Website des Bundesministeriums für Inneres
Rosa, Hartmut, 2005: Beschleunigung. Die Veränderung der
Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp

18. Oktober 2009

Wer lässt sich schon integrieren?

Filed under: Alfred Rammer — soziologie heute @ 16:29

Die doppelte Integrationsproblematik moderner Gesellschaften

von Alfred Rammer

(aus: Public Observer Nr. 24 v. 27.7.2006)

Der Umgang mit fremden Kulturen – zumal mit muslimischen – ist spätestens seit den Terroranschlägen in den USA 2001 allerorts ein heiß
umstrittenes Thema. Schön langsam setzt sich selbst in Ländern wie Deutschland oder Österreich die Erkenntnis durch, dass man ungeachtet anders lautender Versicherungen längst de facto zu einem Einwanderungsland geworden ist.

Vor diesem Hintergrund aber verschieben sich Horizonte, es gilt, Perspektiven für den Umgang von Angehörigen anderer Kulturen innerhalb der eigenen Gesellschaft zu entwickeln, nicht mehr Außenpolitik sondern Innenpolitik ist gefragt. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen, die über
Generationen von ganz anderen Prämissen ausgegangen sind, den Umschlag der realen Verhältnisse zwar theoretisch (und selbst dies mit Würgen)
zur Kenntnis nehmen, in ihren emotionalen und weltanschaulichen Dimensionen jedoch dieser eingestandenen Wirklichkeit hinterher hinken.
Die Folgen sind Ablehnung, Ausländerfeindlichkeit, irrationale Abwehrbemühungen. Und selbstredend finden sich in allen Staaten politische Organisationen und Parteien, die die entsprechenden Stimmungslagen als leicht zu erntendes Stimmreservoir erkennen. Dem Volke auf’s Maul schauend verstärken sie die grassierenden Vorurteile, bauen zum Teil absurde Bedrohungsszenarien auf und bieten messianistisch
anmutende einfache Lösungen. Dabei gäbe es der Probleme wahrlich genug. Doch wird es nicht reichen, den Blick nur in eine Richtung zu schärfen, sich nur damit zu beschäftigen, welche Anforderungen man denn an die hier lebenden Ausländer stellen muss.

Allzu schnell erliegt man der Versuchung, nicht mehr bloß zu fordern, was für ein gedeihliches Miteinander notwendig ist, stattdessen wird das
Fordern Selbstzweck, und erzeugt wird ein Verhältnis zwischen Alteingesessenen und Hinzugekommenen als Über- und Unterordnung. Wenn sie schon „hier bei uns“ leben wollen, so heißt dann die Devise, sollen sie sich eben auch „ integrieren“. Doch erweist sich diese Integrationsforderung bei näherem Hinsehen nicht selten als Euphemismus, als schieres Bedürfnis, den anderen spüren zu lassen, wer hierzulande das Sagen hat. Da reicht es dann auch nicht, wenn eine Gruppe Muslime unter Wahrung sämtlicher in Österreich geltender Regeln privat für einige Stunden
ein öffentliches Freibad mietet, um dort nach eigenen Vorstellungen zu baden – schließlich muss man den Anfängen wehren …

Bei aller Berücksichtigung der verschiedenen Umstände, die die infantile Ausländerfeindlichkeit und -angst schüren – prekäre eigene soziale Lage, drohende Arbeitslosigkeit, demagogische Politiker usw. – ganz aus der Verantwortung wird man den einfachen Bürger wohl auch nicht entlassen
können. Immerhin leben wir im 21. Jahrhundert und die europäischen Gesellschaften verstehen sich als aufgeklärte Gesellschaften. Etwas mehr kritische Selbstreflexion wäre vonnöten, klarere Vorstellungen davon, wer und was man in dieser Gesellschaft und was diese selbst denn eigentlich sein will und soll und kann, wären zu entwickeln.

Vor wenigen Wochen veröffentlichte das Ministerium für Inneres die Zusammenfassung einer Studie, die die Situation der Muslime in Österreich
beleuchtet. Über die wissenschaftliche Qualität der Arbeit lässt sich wohl trefflich streiten, zumal sie ja nicht zur Gänze vorliegt. Fraglich mag auch
sein, ob der Nürnberger Richter und Islamexperte Mathias ROHE tatsächlich die richtige Adresse für die spezielle Fragestellung ist. Doch spielen
derartige Zweifel für die hier präsentierten Überlegungen keine Rolle. Mindestens ebenso interessant erscheint mir die Art und Weise, wie die Ergebnisse in der Öffentlichkeit rezipiert wurden. Gefragt soll hier bloß danach werden, ob die Inhalte der Arbeit tatsächlich das hergeben, wofür
man sie offensichtlich zu verwenden gedenkt, nämlich als Anlass, die Alarmglocken in Österreich noch ein wenig lauter schellen zu lassen.
Gefragt soll in einem weiteren Gedankengang danach werden, was denn diese ominöse „Integration“ eigentlich sei, die man so heftig von den Ausländern (in bestimmter Hinsicht und in vernünftigen Grenzen zurecht) fordert und die man – nicht zuletzt dank besagter Studie – bei selbigen so schmerzlich vermisst. Und hier wird in einem dritten Gedankengang erkennbar, woran das Bemühen um eine befriedigende Bewältigung der Ausländerproblematik
krankt, nämlich an der mangelhaften Trennung zweier Problemkreise: der Integration von Minderheiten einerseits, jener der Mehrheitsgesellschaft
selbst anderseits.

1. Die Integrationsstudie
Mathias ROHE verwendet für seine Studie Daten aus der Volkszählung in Österreich 2001, der Inhaltsanalyse tagesaktueller Medienberichte in Österreich sowie verbreiteter türkisch- und arabischsprachiger
Printmedien; außerdem stützt er sich auf zwei repräsentative bundesweite Telefonumfragen unter jeweils 1000 Österreichern in den Erhebungszeiträumen Ende November bis Mitte Dezember 2005 (Leitfadeninterviews) und Jänner – Februar 2006 (100 ausführliche Leitfadeninterviews).

Die Analyse österreichischer Medien führt Rohe zur Feststellung, dass das medial schon länger behandelte „Ausländerproblem“ während der letzten
Jahre zunehmend zum „Islamproblem“ wurde. Das Thema Integration wurde also insgesamt immer weniger eigenständig als vielmehr im Zusammenhang mit weltweiter Gefahrenprävention erörtert. Auch das noch 1997 im Vordergrund stehende Thema Bildung/Erziehung verschwindet zunehmend. Lokal vorhandene Probleme werden mit Problemen mit der islamischen Welt insgesamt zunehmend vermischt.

Dass es sich für die österreichische Gesellschaft um ein durchaus überschaubares Problem handelt, ergeben die Daten aus der Volkszählung in
Österreich von 2001: 8,9 % der österreichischen Wohnbevölkerung sind Ausländer, knapp 340.000, also 4,2 % der Gesamtbevölkerung, sind Muslime, die hauptsächlich aus Serbien/ Montenegro (18,7 %), Türkei (17,9 %) und Bosnien/ Herzegowina (15,2 %) kommen. Fast alle Türken, die meisten Staatsangehörigen Bosnien/Herzegowinas und wohl auch ein gewisser Teil der Menschen aus Serbien/Montenegro dürften Muslime sein. Die charakteristischen Richtungen des Islam in der Türkei (theoretisch laizistische Ausprägung, faktisch gemäßigter sunnitischer Staatsislam sowie Alevitentum mit in der Türkei stark beschränkter Religionsfreiheit) und auf dem Balkan (weitgehend liberaler bis gemäßigttraditioneller Islam mit vereinzelten Radikalisierungstendenzen im Zuge des Bürgerkriegs) prägen
also das Bild des Islam von Österreich. Je nach Bundesland schwankt der Anteil der Muslime unter den Ausländern zwischen knapp einem Drittel und etwas über der Hälfte.

Die Probleme fasst ROHE wie folgt überblicksartig zusammen: Die muslimische Präsenz in Österreich und in weiten Teilen Europas beruht auf Migration jüngeren Datums. „Gastarbeiter“ mit meist sehr niedriger formaler Bildung und Flüchtlinge prägen das Bild, viele von ihnen befinden
sich am unteren Rand der Aufnahmegesellschaften. Gerade hier treffen zwei sehr gegensätzliche Kommunikationskulturen aufeinander. Orientalische
Kommunikation – geprägt durch Vermeidung offener, sachlicher Kritik – wirkt auf Europäer häufig unaufrichtig. Umgekehrt wirkt die europäische
„Offenheit“ oft verletzend. Innerhalb vertrauter Formen sind die Menschen orientalischer Prägung im zwischenmenschlichen Umgang sehr herzlich, offene Ablehnung führt zu Trotzreaktionen. Hier liegt eine der wesentlichen Ursachen der mittlerweile unter jungen Türken oder Albanern herausgebildete, teils betont aggressive Jugendkultur.

„Nach langjähriger Beobachtung über die hier vorliegende Analyse hinaus wagt der Verfasser die Tendenzaussage, das der übersteigerte Nationalismus
bei vielen Türken nicht weniger integrationshinderlichist als religiöser Fanatismus (nicht zuletzt militante laizistische Nationalisten sind für einen Grossteil der vergangenen und gegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei verantwortlich).“
Solange in der europäischen Öffentlichkeit Muslime bzw. der Islam vorwiegend als Problem wahrgenommen und angesprochen werden, dürfte sich – so vermutet der Autor – die Isolation auf beiden Seiten eher verstärken. Je mehr gemäßigte muslimische Stimmen auch in der Öffentlichkeit wirken können, je mehr Muslime beruflich und gesellschaftlich feste Verankerung finden und sich an arrivierten Multiplikatoren orientieren
können, desto eher werde dauerhafter gesellschaftlicher Friede zu erreichen sein. Bei all dem schreibt er übrigens der Religion keine entscheidende
Bedeutung zu. Sie könne allerdings ideologisch genutzt und bei Unzufriedenen zur Mobilisierung für den Aufbau einer „Gegengesellschaft“
dienen.

ROHE zieht folgende Schlussfolgerungen:
„Persönliche Erfahrungen und Einschätzungen der befragten Österreicher und Muslime hinsichtlich des Zusammenlebens lassen die vereinfachte
Aussage zu, wonach ein insgesamt eher kontaktarmes, friedliches, aber von einiger Distanz geprägtes Nebeneinander besteht – ‚Integration’
auf niedrigem Niveau. Diese vereinfachte Aussage muss allerdings gruppenspezifisch relativiert werden, sowohl im Hinblick auf die Österreicher insgesamt als auch auf die Muslime. Beide Gruppen sind sehr heterogen, und in beiden Gruppen findet sich eine grundsätzlich verständigungsbereite oder zumindest neutrale Mehrheit. Allerdings
sind gewichtige Gruppen mit jeweils erheblicher Distanz zum Gegenüber (Muslime bzw. österreichische Gesellschaft) nicht zu übersehen.“

„Restriktive Maßnahmen gegen Extremismus und Unterhöhlung werden auf breite Akzeptanz stoßen, auch unter vielen Muslimen. Solche Akzeptanz
setzt andererseits die Bereitschaft zur Förderung und effektiver Rechtsgewährung dort durch, wo entsprechende Ansprüche bestehen
bzw. wo Fördermaßnahmen Integration effizient bewirken können.“

„Die Integration der Muslime in die österreichischeGesellschaft (nicht: die Assimilation an sie!) ist noch bei weitem nicht erfolgreich abgeschlossen.
Es dominiert das weitestgehend friedfertige Nebeneinander mit einer noch verbreiteten gegenseitigen Distanz. Die Mehrheit unter den Österreichern
insgesamt wie auch unter den Muslimen bringen nach ihren Grundhaltungen gute Voraussetzungen für gelingende Integration mit.

Allerdings finden sich auf beiden Seiten gewichtige Gruppen, die hierfür nur schwer zu gewinnen sind. Ein gewisses Maß an Segregation wird daher wohl auf lange Zeit hinzunehmen sein. Segregation ist aber ein in jeder Gesellschaft durchaus übliches Phänomen und als solches nicht bedenklich.
Deshalb ist auch der verbreitete Begriff der ‚Parallelgesellschaft’ noch zu wenig konturiert, um aussagekräftig zu sein.“

„Das größte Gefährdungspotential dürfte … dort liegen, wo wirtschaftliche Probleme, ein erhebliches Maß an innerer Distanz, Unsicherheit bzw.
Überlegenheitsgefühlen und intensive Einbindung eine ethnisch oder religiös ausgerichtete Infrastruktur zusammentreffen.“

ROHE zeichnet alles in allem kein besonders dramatisches Bild von der Situation der Muslime in Österreich. Im Duktus durchaus wohlwollend verweist er auf die verschiedenen Probleme und Gefahren und zeigt sich vorsichtig optimistisch, was die Möglichkeiten der Bewältigung derselben
betrifft. Von überbordender und gefährlicher Integrationsfeindlichkeit
eines beträchtlichen Teils der Immigranten ist nicht nur nicht die Rede, es
bedarf kühner Phantasie, um derartige Deutungen zu entwickeln. Dass sich selbige dennoch jedenfalls teilweise durchsetzen, lässt vermuten, dass diese Gesellschaft keine klaren Vorstellungen davon hat, woraufhin zu integrieren ist.

2. Integration
Emile DURKHEIM folgend ist zu unterscheiden zwischen zwei Dimensionen sozialer Integration, nämlich der negativen und der positiven Solidarität,
denen aus rechtsphilosophischer Sicht negative und positive Freiheit korrespondieren.

Wenngleich man die Konzepte der Klassiker der Soziologie nicht unmittelbar auf die Gegenwart anwenden kann, empfiehlt sich doch, an diese anzuschließen. Nicht nur gelten jene nicht umsonst als Klassiker, sie machten sich auch um die Entwicklung der soziologischen Theorie und Praxis in unvergleichlicher Weise verdient und lieferten Erkenntnisse, hinter die nicht straflos zurückzufallen ist; die von der Tradition völlig unbelastete
Bearbeitung gesellschaftlich relevanter Themenschafft zudem terminologischen Wildwuchs, der mehr verdeckt als freilegt. Freilich darf man es nicht beim bloßen Rezitieren klassischer Theorien oder Theorieelementen belassen, vielmehr gilt es zu prüfen, ob und wie weit selbige auch die jeweilige Gegenwart erhellen können.

Negative Solidarität bedeutet eine Akkordierungder Handlungsrechte von Personen in einer Weise,die Konflikte vermeidet. Der eindeutige Anspruch
auf Eigentum vermeidet den Streit um die Nutzung desselben. Jede konfliktfreie Bestimmung von Handlungsrechten drückt eine negative
Solidarität aus, sie gewährleistet, dass sich die Menschen nicht gegenseitig ins Gehege kommen. Möglich ist diese negative nur durch das
Gegenstück der positiven Solidarität. Diese besteht in der gegenseitigen Anerkennung jener Rechte und in der gemeinsamen Unterhaltung
von Rechtsinstanzen, die über die gegenseitige Respektierung der Rechte wachen. Dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis verweist
auf die Irreduzibilität der beiden Dimensionen.

Die eine ist ohne die andere nicht zu haben.
Ein gedeihliches Miteinander der Menschen in´einer Gesellschaft setzt also voraus, dass positive wie negative Solidarität in ein möglichst optimales
Gleichgewicht zu bringen sind, ein Gleichgewicht freilich, das stets prekär bleibt und welches unter Bedachtnahme sich ändernder Rahmenbedingungen immer wieder neu einzustellen ist.

Richard MÜNCH deutet „negative Integration“ in Bezug auf die europäische Integration und die Öffnung des Weltmarktes als die Form der Integration,
die sich aus dem Abbau von Handelshemmnissen ergibt. „Positive Integration“ meint dabei das staatlich-regulierende Eingreifen in die
Marktbeziehungen zwecks Kontrolle unerwünschter Nebeneffekte.
Negative Integration wie negative Solidarität beruhen
also auf der Gewährung privater Freiheitsrechte, positive Integration und positive Solidarität stützen sich auf Kooperation zum Zweck der gemeinsamen Gestaltung der Handlungsräume.
Die positive Solidarität beinhaltet stets eine Form der Zusammenarbeit, etwa die gegenseitige Anerkennung von Handlungsrechten, die Bereitschaft,
Konflikte nach rechtlich festgelegten Verfahren friedlich zu bewältigen sowie rechtliche Instanzen, die Regelabweichungen erfolgreich
sanktionieren, gemeinsam zu unterhalten. Das Integrationsmedium der positiven Solidarität ist das Recht.

Andere Formen positiver Solidarität sind von derrechtlichen zu unterscheiden: die kollektive Verbundenheit,die sich etwa in dichter Arbeitsteilung,in gemeinsamem republikanischem Bürgersinn,in enger sozialer Zusammenarbeit und gemeinsamer kultureller Lebenswelt äußert; die Bereitschaft, den erwirtschafteten Wohlstand mit allen
Mitgliedern der Gesellschaft zu teilen; derVorrang des Kollektivs vor dem Individuum und der Vorrang des eigenen Kollektivs gegenüber
anderen Kollektiven. Das Integrationsmedium dieser „emotionalen Solidarität“ ist das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Je umfassender die einzelnen Formen der positiven Solidarität verwirklicht werden, desto stärker ist eine Gesellschaft integriert. Je stärker die Formen
„emotionaler Solidarität“ ausgeprägt sind, desto geringer fällt die persönliche Wahlfreiheit aus. Zuviel soziale Integration schließt also eine
Gesellschaft nach außen ab, engt die individuellen
Handlungsspielräume ein und unterdrückt Innovationen. Zuwenig soziale Integration wiederum lässt keine Kooperation aufkommen, wo sie benötigt wird, führt zu einem Mangel an Infrastrukturen, überlässt die weniger Leistungsfähigen sich selbst und erzeugt Krisenherde der Entfremdung,
Hoffnungslosigkeit und Anomie (Regellosigkeit), die sich in Kooperationsverweigerung, Zynismus, Leistungsverweigerung und Kriminalität äußern.

In der Moderne wurde der Nationalstaat zur zentralen Einheit einer starken sozialen Integration mit entsprechender Einbettung der negativen in
eine umfassende positive Solidarität. Die Nation ist dabei bestimmbar als eine historisch gewachsene oder politisch konstruierte Gemeinschaft mit
einem Zusammengehörigkeitsgefühl, das nach innen Differenzen wischen kleineren Gemeinschaften überwindet und sich nach außen gegenüber
anderen Nationen abgrenzt. Als Staat ist ein Herrschaftsverband, der für ein bestimmtes Territorium erfolgreich das Gewaltmonopol beansprucht,
zu verstehen. Der Nationalstaat ersetzt nicht nur partikulargemeinschaftliche Solidarität durch Recht, er schafft auch eine neue solidarische Einheit. Mit den Worten von Richard MÜNCH „Nationale Solidarität ist die nicht-rechtliche Grundlage einer sonst durch das Recht integrierten Gesellschaft, so wie das Recht die nicht-kontraktuelle Grundlage
des Vertrags ist … und der Vertrag das bindende Element der arbeitsteiligen Gesellschaft mit ihrer marktwirtschaftlichen Ordnung.“ Die auf wachsender Arbeitsteilung beruhende organische Solidarität (DURKHEIM) wurde in den Wohlfahrtsstaaten in eine ausgeprägte mechanische Solidarität eingebettet.

Die mechanische Solidarität äußert sich im Grad der Marktunabhängigkeit
des individuellen Lebensstandards. Die internationale Arbeitsteilung überwindet den tödlichen Kampf um knappe Ressourcen und wird zur Grundlage der grenz-überschreitenden Integration. Jenseits der global wachsenden Inklusion der Menschen in die Erwerbsarbeit ist aber soziale
Integration – jedenfalls in vorerst präsentierter Form – kaum mehr möglich.
Dies hängt nicht zuletzt mit dem Umstand zusammen, dass das hohe Wohlstandsniveau und dessen kollektive Teilung in den Wohlfahrtsstaaten
mit einem hohen Maß an Ungleichheit und der Desintegration der Weltgesellschaft einhergingen.

Die Wohlfahrtsstaaten konnten ein hohes Maß der mechanischen Solidarität von Inseln des Wohlstands in eine immer mehr von grenzüberschreitender
Arbeitsteilung geprägten Welt retten, doch je weiter sich der europäische Markt und der Weltmarkt öffnen, desto weniger wird sich dieser nationale Wohlstandsverbund in seiner bisherigen Gestalt aufrecht erhalten lassen.

Die unabwendbare Standortkonkurrenz schlägt von der nationalen auf die regionale, lokale und individuelle Ebene durch und lockert so die nationalen
Bande der kollektiven Solidarität. Diverse Sozialleistungen erweisen sich zunehmend als Schwächung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit, die Starken lassen sich weniger bereitwillig zu Ausgleichszahlungen motivieren, weil sie jetzt selbst härterer Konkurrenz ausgeliefert sind. Die nationale Kollektivsolidarität wird schwächer und differenziert sich stärker aus in reichere und ärmere Regionen, Städte, Gemeinden, Schichten und Berufsgruppen. „Die kosmopolitisch orientierte Intelligenz wird zum Träger der erweiterten internationalen Arbeitsteilung, die sich über die bisherigen
Schranken der nationalstaatlich organisierten kollektiven Solidarität hinwegsetzt.“

Die Modernisierungsverlierer dagegen sehen den Verlust nationaler Solidarität als Bedrohung für ihr eigene Position und werden so zur Quelle nationalistischer Gegenbewegungen gegen die Globalisierung. Dies alles führt tendenziell auch dazu, dass sich die Maßstäbe der Gerechtigkeit verändern. Gleichheit soll sich weniger in gleichen Resultaten trotz ungleicher Leistungen äußern, sondern mehr in der proportionalen Entlohnung von Leistungen und in gleichen Chancen im Wettbewerb
um Einkommen und Status. Und zunehmend findet der Gedanke Widerhall, dass vom Steuerzahler zu finanzierende Sozialleistungen nur denjenigen
zugute kommen sollen, die ihrer auch bedürfen.

Nicht ganz zu Unrecht gilt Richard MÜNCH als der „amerikanischste“ der deutschsprachigen Soziologen. Entsprechend sollten insbesondere dessen Schlussfolgerungen mit Vorsicht behandelt werden. Tatsächlich erweist sich, dass diese gemessen an seinen sehr sorgfältig ausgearbeiteten
Gegenwartsanalysen in ihrer Stringenz doch erheblich zurückbleiben. Weil das Ziel der Argumentation – der Ausweis US-amerikanischer Gesellschaftsordnung als die einzige Option – schon feststeht, fallen Alternativen unter den Tisch. Doch da es mir hier nicht um eine ausführliche
Diskussion sozialpolitischer Perspektiven zu tun ist, mag MÜNCHS Ausblick als Anstoß für weitere Debatten dienen:

Als Strategien zur Bewältigung der Herausforderungen der Globalisierung kommen nach MÜNCH Neoliberalismus, Rettung des Wohlfahrtsstaates
und Europäische Sozialintegration in Betracht. Alle drei beinhalten ihm zufolge Richtiges, sie sind ihm aber zu einseitig und letztlich unrealistisch. Bleibt als einzig realistische Strategie eine vernünftige Kombination der drei. Die Marktöffnungsstrategie gilt ihm als unvermeidlich und in dem Umfang richtig, in dem Desintegration und Anomie vermieden werden können. Diese
sucht die Strategie der Rettung des Wohlfahrtsstaates in sozialverträglichen Grenzen zu halten.

Die Sozialintegration wird sich auf Fairness im Sinne von Chancengleichheit konzentrieren müssen, sie wird aber nicht gleiche Lebensbedingungen
schaffen können.

In dem Maße, in dem sich die Politik in der Gesellschaftsgestaltung
durch Gesetzgebung zurückhält, eröffnen sich neue Spielräume eigenverantwortlicher Lebensgestaltung, die die Menschen
häufiger in Konflikte über die Reichweite ihrer Rechte geraten lässt. Entsprechend wächst im Verhältnis zur Gesetzgebung die Bedeutung
der Rolle der Gerichte der Sozialintegration durch Streitschlichtung, Gewährleistung rechtlicher Gleichheit, Chancengleichheit und Fairness.

3. Die Integrations-Desintegrationsdynamik
Regelmäßiges Wachstum, sozialstaatliche Sicherungen und korporatistische Übereinkünfte zwischen Interessengruppen nach 1945 vermittelten den Eindruck, dass die Integrationsfrage gelöst sei, ließen erwarten, dass das individuelle wie das soziale Leben von immer weniger Desintegration gekennzeichnet sei. Mittlerweile jedoch zeichnet sich ab, dass sich angesichts der Ambivalenzen sozialer Modernisierung die Integrationsproblematik noch radikalisiert und sich längst
nicht mehr bloß für die „Ausländer“ stellt.

Mittlerweile stellt sich eine doppelte Integrationsfrage: die Integration der Mehrheitsgesellschaft selbst und die der Minderheiten. Mittlerweile gibt es einige Ansätze, die Integrationsthematik mehrdimensional zu betrachten. Sie alle lassen vermuten, dass die Frage danach, was die Gesellschaft zusammenhält, kaum befriedigend beantwortet werden kann, es sei denn,
man stellt an derartigen Zusammenhalt dermaßen bescheidene Ansprüche, dass man von einem solchen eigentlich gar nicht mehr sprechen
kann.

Für Wilhelm HEITMEYER unterscheidet sich die heutige Integrations- Desintegrationsdynamik von früher in drei Punkten: Erstens wird die soziale, ökonomisch-politische Entwicklungsrichtung immer diffuser; zweitens sind die Fragen brisanter Konfliktlinien jenseits politischer Ideologien in den
neuen ethnisch-kulturellen Konfrontationslinien unbeantwortet; und drittens werden immer neue Bevölkerungsgruppen in diese Dynamik hineingezogen, so dass die Angst vor Desintegration zunimmt.

Einer der wesentlichsten Gründe dafür, dass heute die Integrationsthematik so viel Aufmerksamkeit erfährt, ist wohl dem Umstand geschuldet,
dass man angesichts fortgeschrittener Differenzierung einer Gesellschaft auch die Notwendigkeit höher Integration erwartet, andernfalls ja der
soziale wie auch persönliche „Gewinn“ abhanden käme. Was brächte die durch kulturelle Pluralisierung größer gewordene Geltung der jeweiligen
Interessen, wenn gleichzeitig die Wirksamkeit der Regelung von Gegensätzen und Konflikten abnähme?

Nun sind die Versuche einer normativ neutralen Konzeption sozialer Integration entweder gescheitert, oder die Konzeption wird von Menschen,
ihren Bedürfnissen und Ängsten „entleert“ und nur noch sozialtechnologisch gedacht. Als Alternative, die ich im Folgenden forcieren möchte, bietet sich die Idee von der Gleichwertigkeit der Menschen und der Gewaltfreiheit der Verhältnisse und Beziehungen.

Ein Blick auf den Gebrauch des Begriffs Integration macht schnell deutlich, dass selbiger recht nachlässig und interessenorientiert verwendet
wird, ohne dass Rechenschaft darüber abgegeben wird, warum und wozu man ihn auf bestimmte Art und Weise in Anschlag bringt und vor allem
ohne darauf zu reflektieren, was dabei unter den Tisch fällt. So wird Integration zumeist positiv konnotiert, die Ambivalenz des Begriffs, die vorhandenen Mechanismen der sozialen Kontrolle und Zwänge und die damit verbundenen Herrschafts- und Machtverhältnisse, werden für gewöhnlich ausgeblendet. Auch die Gleichsetzung von Stabilität und Integration oder Konfliktfreiheit und Integration ist durchaus problematisch. Dementsprechend wird Desintegration per se negativ
interpretiert. Doch die einfache Gegenüberstellung von positiver
Integration und negativer Desintegration ist nicht sehr hilfreich, denn die gesellschaftliche Entwicklung befindet sich in einer wechselseitigen Integrations-Desintegrationsdynamik. Dagegen gilt es, die Antriebskräfte von Ausformungen der jeweiligen „hellen“ und „dunklen“ Seiten von
Integration und Desintegration gleichermaßen zu berücksichtigen.

Falsch ist auch die Behauptung, dass nicht mehr die hierarchische gesellschaftliche Aufteilung von „oben“ und „unten“ maßgeblich sei, dass es
nun stattdessen um „in“ und „out“ gehe. Demgegenüber ist festzustellen, dass in der funktional differenzierten Gesellschaft die stratifikatorischen
Kategorien keineswegs geschliffen sind. Phänomene sekundärer Differenzierung nach Geschlecht, Hautfarbe, kultureller Zugehörigkeit
usw. werden mit neuen Bedeutungen versehen, die zu immer veränderten Konstellationen von Integration und Desintegration zugleich führen können.

Es gehen also in funktional orientierte Konzeptionen auch stratifikatorische Elemente wie z.B. Positionierungen im Staatsgefüge ein Empirisch lassen sich vielfältige Konstellationen für unterschiedliche Personen und Gruppen feststellen. Durch die Integrations-Desintegrationsdynamik
werden individuell, milieubezogen oder entlang ethnisch-kultureller Zugehörigkeiten komplexe Anerkennungsprozesse geformt,
womit soziale Bindung und politische Loyalitäten erzeugt und stabilisiert werden oder selbige erodieren und lösen sich auf. Die durch gesellschaftliche Modernisierung hervorgerufenen Individualisierungsschübe befördern neue Integrations-
wie Desintegrationsformen, und es stellt sich die Frage, ob diese Dynamik in „Balance“ gehalten werden kann. Innergesellschaftliche Modernisierungsprozesse, die Globalisierung ökonomischer
Entwicklungen und die ethnisch-kulturelle Partikularisierung lassen es zunehmend undeutlich werden, welche Integrationsmodi und welche
Integrationsressourcen heute noch greifen.

Der Verlauf gesellschaftlichen Wandels hat mehrere Integrationsmodi hervorgebracht. Heutzutage kann, wie HEITMEYER zutreffend feststellt,
gesellschaftliche Bindung nicht mehr als die Auflösung bzw. das Fehlen gesellschaftlicher Konflikte gesehen werden, sondern als Regulation von
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Bewältigt werden demzufolge gesellschaftliche (auch ethnische) Auseinandersetzungen nicht durch
Überwindung, sondern durch das erfolgreiche Prozessieren von Konflikten, wodurch gesellschaftliche Stabilität gesichert und die widerstreitenden
Standpunkte in einem für alle Beteiligten akzeptablen Modus vivendi zusammengeführt werden.

Während die soziologischen Klassiker davon ausgegangen sind, dass die funktionale Differenzierung der Gesellschaft die ethnischen Kategorisierungen zum Verschwinden bringen würden, zeigt
sich heute ein Zunehmen ethnisch-kultureller Auseinandersetzungen.

HEITMEYER nennt folgende anomische Entwicklungen und Gewaltpotenziale, die sich erkennen lassen:
1. Die Strukturkrise, die sich entlang der Differenzierung
gesellschaftlicher Teilsysteme feststellen lässt. Dies führt zur Problementwicklung der stratifikatorischen Positionierung bis hin zur Existenzgefährdung. Wirtschaftliches Wachstum und prosperitätsorientierte Politik verschärfen Ungleichheit. Demokratieabbau bei Wohlstandserhaltung für deutungs- und mobilisierungsfähige
Milieus scheint die fast unausweichliche Konsequenz zu sein.
2. Die Regulationskrise, die davon herrührt, dass durch die Pluralisierung von Werten und Normen „Sinn“ und Verständigung abnehmen. Durch die Pluralisierung von Werten und Normen erhöhtsich die Kontingenzerfahrung und somit auch die Beliebigkeit, daneben wird der Kern der unstrittigen
Normen kleiner, der der umstrittenen dagegen größer.
3. Die Kohäsionskrise, die sich in der Abnahme
von sozialer Anerkennung, Bindungen und Zugehörigkeiten
zeigt. Und so kommt HEITMEYER zu dem Schluss:
„Ein Syndrom, das Desintegrationserfahrungen und Ängste mit Delegitimierung von Normen und der Kontingenz von Wertvorstellungen verbindet sowie ihren Niederschlag sowohl in Vereinzelung
als auch in Re-Aktivierungen von Abgrenzungen erfährt, hat weitreichende Folgen: die ‚Entsicherung’ von Konfliktpotentialen, und damit Gewaltlatenz
durch Gleichgültigkeit, geht in diesem Syndrom einher mit der Absenkung von Gewaltschwellen und der Lenkung von Gewaltprozessen.“
4. Zusammenfassung
Gegenwärtig stehen die europäischen Gesellschaften vor großen Umbrüchen. Die Probleme, die sich mit einem vermehrten Zuzug von Ausländern ergeben, sind tatsächlich vorhanden und sollen hier keineswegs geleugnet werden, wenngleich darauf verzichtet wird, diese ausführlich zu
behandeln oder gar einer Lösung zuzuführen. Beleuchtet man nämlich den gegenwärtigen Diskurs über die Integration von Fremden in die eigene
Gesellschaft so wird schnell ersichtlich, dass sich selbiger über weite Strecken jedenfalls in der breiten Öffentlichkeit von der Wirklichkeit
abgekoppelt hat. Der Beispiele ließen sich viele finden, auf deren Aufzählung muss jedoch aus Platzgründen verzichtet werden. Da werden dann von den Fremden Anpassungsleistungen an Traditionen und Üblichkeiten, die es so nicht oder nicht mehr gibt, gefordert. Während man einerseits
gemeinhin einem überbordenden Individualismus frönt und das Verdampfen von Solidarität mit schicksalsergebenem Achselzucken zur
Kenntnis nimmt, bedient man sich der im großen und ganzen allgemein geteilten Ablehnung von Fremden gleichsam als Alternativquelle von Solidarität. Freilich hat derartige Beruhigung auch ihren
Preis. Dieser besteht darin, dass unter der Hand Prozesse in Gang gesetzt oder verstärkt werden, die man eigentlich nicht wünscht und deren
Konsequenzen im nachhinein umso schmerzhafter empfunden werden, sobald sie dann doch einmal an die Oberfläche drängen.

Es ist höchst an der Zeit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Integrationsfrage nicht ein für allemal gelöst, sondern angesichts sozialer Modernisierung
erneut und sogar verschärft aufgebrochen ist und sich nun als eine doppelte stellt: als Integration von Minderheiten einerseits und neuerdings
eben auch als Integration der Mehrheitsgesellschaft selbst. Eben diese zweite wird mangels Bereitschaft in der breiten Öffentlichkeit noch
viel zu wenig gesehen und thematisiert. Doch auf Dauer wird es wohl nicht möglich und keinesfalls dienlich sein, die Verwerfungen in einem Gebiet
mit Kurierungsanstrengungen im anderen zu bewältigen. Noch so restriktive und jedenfalls manchmal auch gehässige Maßnahmen gegen Ausländer geben nicht genug her, um die Mängel der Integration der Mehrheitsgesellschaft zu beheben.

Literatur
Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine
andere Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), 1997a: Was treibt die Gesellschaft
auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem
Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Bd. 1,
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997b: Was hält die Gesellschaft
zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf
dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft,
Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Münch, Richard, 1996: Risikopolitik, Frankfurt/M.: Suhrkamp,
1998: Globale Dynamik, lokale Lebenswelten. Der
schwierige Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 2001: Offene Räume. Soziale Integration
diesseits und jenseits des Nationalstaates, Frankfurt/
M.: Suhrkamp
Rohe, Mathias, M.A., 2006: Perspektiven und Herausforderungen
in der Integration muslimischer MitbürgerInnen
in Österreich. Executive Summary, Erlangen-Wien:
Website des Bundesministeriums für Inneres
Rosa, Hartmut, 2005: Beschleunigung. Die Veränderung der
Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp

17. Oktober 2009

Lebensstil

Filed under: Alfred Rammer — soziologie heute @ 17:33

ein Konzept für die Soziologie des 21. Jahrhunderts

von Alfred Rammer

Der Begriff „Lebensstil“ ist denkbar diffus, alle möglichen Leute benutzen ihn als Zuschreibung für höchst unterschiedliche Sachverhalte. Doch ist dies das Schicksal vieler Begriffe der Sozialwissenschaften, und es ist auch keineswegs besonders verwunderlich, denn einerseits bleibt es jedem Menschen unbenommen, einen Gegenstand einfach anders zu benennen als man dies gewohnt ist, anderseits ist eben auch tatsächlich der jeweils thematisierte Gegenstand der Gesellschaftswissenschaften, der ja immer Teil der von Menschen geschaffenen Wirklichkeit ist, dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Dennoch wird man ihn schwerlich einfach aus der Soziologie bannen können, würde man damit doch dieses Fach eines gewichtigen Forschungsfeldes berauben. Es bleibt also nichts anderes übrig, sich dem Bedeutungsgehalt je neu anzunähern und gegebenenfalls zu entscheiden, auf welchen Gebrauch und Bereich des Forschungsfeldes man sich denn im Kommenden festzulegen und zu beschränken gedenkt.

 

Bei Durchsicht der entsprechenden Literatur fällt schnell auf, dass Lebensstil weitgehend der Freizeitsphäre zugeordnet wird. Die Freizeitforschung bedient sich des Lebensstilkonzepts als Bezugsrahmen zur Interpretation einzelner Erhebungsdaten und erhält so durchaus beachtliche Einsichten. Doch ist dann nicht mit „Lebensstil“ einfach dasselbe gemeint wie mit „Freizeit“?

Nun, vermutlich kann man es sich so einfach nicht machen, würden doch damit wichtige Bereiche der sozialen Wirklichkeit, etwa Politik, Wirtschaft, Kultur, aus dem Blick geraten. Das ist denn doch ein wenig bescheiden und jedenfalls nicht das, worauf man zielte, als man einstens damit begann, das Konzept zu entwickeln. Ohne sich einer ungeprüften und kritiklosen Ahnenverehrung zu verschreiben, ist man doch gut beraten, in einer ersten Annäherung eben jene zu befragen. Dabei ist klar, dass man bei den „Klassikern“ nicht stehen bleiben kann, denn, wie erwähnt, die gesellschaftliche Wirklichkeit ist einem ständigen Wandel unterworfen, und man könnte nur verfehlen, was bei den „Alten“ im Zentrum des Interesses stand, würde man deren Perspektiven einfach fortschreiben. Angesichts des knapp bemessenen Raumes beschränke ich mich auf die Darstellung von in Hinblick auf das Thema zentralen Ideen von Max Weber und, gleichsam als Vertreter der „soziologischen Klassiker der Gegenwart“, des kürzlich verstorbenen Pierre Bourdieu.

Max Weber
Max Weber verwendet den Begriff „Lebensstil“ in seiner Unterscheidung zwischen Klassen, Ständen und Parteien, die er in seinem Werk Wirtschaft und Gesellschaft präsentiert. Dabei sieht er Klassen als ökonomisch bestimmt, Parteien als auf politische Macht bezogen, und die Stände beschreiben ihm zufolge eine soziale Ordnung.

Die „ständische Lage“ hält Weber für jene Komponente des Lebensschicksals, die durch eine spezifische (positive oder negative) soziale Einschätzung der Ehre bedingt ist. Dieser ständischen Ehre wird der einzelne durch eine bestimmte Lebensführung gerecht. Selbige Lebensführung wiederum sieht er durch Konventionen geregelt, die sich in subtile Verästelungen ausbreiten, zu Ritualisierungen werden und zu einer „Stilisierung“ des Lebens führen. Mit diesen beiden Begriffen – einerseits die mehr auf den Akteur oder eine Gruppe von Handelnden gerichtete „Lebensführung“, anderseits die die ritualisierten Handlungen beschreibende „Stilisierung des Lebens“ – lässt sich der Bedeutungsumfang des Wortes „Lebensstil“ bei Weber erfassen. 

„Lebensführung“ entspricht bei Weber der sozialen Ordnung und äußert sich in kulturellen Orientierungen, wobei er die Möglichkeit ständischer Lebensführung ökonomisch mitbestimmt sieht. Anderseits sieht er ständisch-soziale Interessen sich auf politisches Handeln auswirken, insofern diese in der politischen Auseinandersetzung vertreten werden. So avanciert „Lebensstil“ zu einem Schlüsselbegriff, der alle Bereiche historischer Erfahrung tangiert, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß: Soziale und kulturelle Erfahrungen gehen als Orientierungsmuster unmittelbar in den Lebensstil ein, ökonomische Ursachen sind durch Beruf, Status und Einkommen gegenwärtig, Politik wirkt in dem Maß, in dem sie Freiheit gewährt oder vorenthält, auf das Leben der Menschen ein.

Pierre Bourdieu
Mit den Überlegungen Bourdieus lässt sich der innere Zusammenhang zwischen den Erfahrungen der Individuen und der sie umgebenden objektiven Strukturen trefflich darlegen. Bekanntlich arbeitet selbiger mit dem Schlüsselbegriff des „Habitus“. Damit bezeichnet er Dispositionen, die auf ein System verinnerlichter Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zurückgehen, die allen Mitgliedern einer Gruppe oder Klasse gemeinsam sind, womit auch klar ist, dass sie aus der objektiven Realität sozialer Strukturen stammen. Allerdings werden sie von den Individuen aufgenommen, gelernt, verarbeitet, internalisiert. Vermittelt werden sie durch kulturelle Symbole. Diese wiederum – also die Art, miteinander umzugehen, zu grüßen, die in Einsatz kommenden Gesten usw. – bilden eine Matrix von Beziehungen, die gelesen und verstanden wird. Im Habitus sind historische Erfahrungen eingeschrieben.

So entsteht ein System verinnerlichter Muster, die alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur erzeugen. Zwar verfügt das Individuum über diese Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, doch spricht dieses eben immer die Sprache der Kultur, die es erlernt hat, bleibt eingebunden in die objektiven Strukturen einer sozialen Realität.  So wird die Sozialisation zur Einübung und zum Erwerb des Habitus, und der jeweilige Lebensstil ist sein Ausdruck.

In den Eigenschaften (und Objektivationen) von Eigentum, mit denen sich die Einzelnen wie die Gruppen umgeben – Häuser, Möbel, Gemälde, Bücher, Autos, Spirituosen, Zigaretten, Parfüms, Kleidung – und in den Praktiken, mit denen sie ihr Anderssein dokumentieren – in sportlichen Betätigungen, den Spielen, den kulturellen Ablenkungen – erkennt Bourdieu Systematik. Dies allerdings nur, weil sie in der ursprünglichen synthetischen Einheit des Habitus vorliegt, dem einheitsstiftenden Erzeugungsprinzip aller Formen von Praxis.

Wir finden bei Bourdieu eine systematische Formel, die die Auswahl bestimmter Inhalte und Ausdrucksformen steuert, was uns erspart, auf eine wahllose Aufzählung derselben zurückzugreifen. Die Wahl der Gegenstände entspricht bestimmten Neigungen und Präferenzen, die einem einheitlichen Prinzip entspringen. Lebensstil ist also hier ein System kohärenter Ausdrucksformen und Orientierungsmuster.

Diese Handlungen sind typisch für eine soziale Gruppe oder gar für eine Kultur. Ein begrenzter Satz von Dispositionen erzeugt eine schier unendliche Zahl von Handlungen, denen man nachträglich ihre Stilähnlichkeiten ansieht, ohne dass man sie immer vorhersehen könnte. Und diesem Umstand ist es zu verdanken, dass man Lebensstile untersuchen kann. Folgt man diesen Überlegungen, so müsste es möglich sein, bei der Beschreibung von herausragenden Bereichen der Lebenspraxis eine Einheitlichkeit zu entdecken, die in sämtlichen Bereichen deutlich wird. Wobei selbstredend nicht vergessen werden darf, dass die Ausdrucksformen von Lebensstil stets in den ökonomischen und sozialen Lebenszusammenhängen der Menschen zu sehen sind. Und nicht zuletzt bleibt zu berücksichtigen, dass diese Ausdrucksformen auf die kulturellen Normen bezogen werden, die den Stilwillen der Einzelnen oder der sozialen Gruppen inhaltlich bestimmen.

Wie entstehen Lebensstile?
Lebensstile entwickeln sich auf der Grundlage bestimmter Lebensbedingungen. Die politischen Verhältnisse eröffnen die Freiräume, in denen eine Vielfalt von Lebensformen möglich ist. Natürlich begrenzen sie diese Räume auch entsprechend. Die materiellen Umstände – das Ausmaß der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern sowie die Ermöglichung von Konsumwünschen, die über den notwendigen Bedarf hinausgehen, bestimmen Einstellungen und Verhaltensformen. Die Lebensgestaltung wird geprägt von der Art, wie das wirtschaftliche Leben in Produktionsformen und Arbeitsorganisation geregelt wird. Danach richtet sich der Tagesablauf, danach ergeben sich Möglichkeiten eigenständiger, selbstbestimmter Berufsausübung – oder eben auch nicht. Es ist also festzuhalten, dass die sozialen Beziehungen nur im Zusammenhang mit der politischen und wirtschaftlichen Organisation angemessen gedeutet werden können.

Der Grad gesellschaftlicher Differenzierung spiegelt sich in der Ausbildung und Entwicklung von Lebensstilen wider, die je nach sozialer Gruppe unterschiedlich ausgeprägt sein können oder von anderen übernommen werden. In diesem Sinn lässt sich dann sogar behaupten, dass es einen einheitlichen Lebensstil gibt, der für eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit charakteristisch ist. Allerdings ist eine derartige Verwendung des Begriffs dann nur mehr für die Unterscheidung verschiedener Epochen (also diachron) dienlich, während ein differenzierender Blick auf die Gegenwart (synchron) verwehrt ist.

Doch es sind nicht ausschließlich materielle Faktoren, die den jeweiligen Lebensstil beeinflussen. Auch geltende Normen, Interessen, Wertsetzungen, persönliche Einstellungen spielen dabei eine bedeutende Rolle, wobei klar ist, dass sie ihrerseits nicht isoliert von den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft zu begreifen sind.

Individualisierung als prägende Kraft im 21. Jahrhundert
Eine erschöpfende Analyse der die moderne Gesellschaft prägenden Kräfte – unerlässlich für ein Aufspüren und Verstehen sich darin zeigender Lebensstile – kann selbstredend hier nicht geleistet werden. Immerhin dürfte weitgehend außer Streit stehen, dass im Blick auf die Gesellschaft der Gegenwart dem Prozess der Individualisierung besondere Bedeutung zukommt. Dies gilt ungeachtet der auftretenden Gegentendenzen, die die Individualisierung nicht zurückdrängen, sondern mitgestalten. Ulrich Beck widmet ihr in seinem Buch Risikogesellschaft besondere Aufmerksamkeit.

Genauerhin führt die Modernisierung neben anderem auch zu einer dreifachen Individualisierung: zum ersten haben wir es zu tun mit der Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und –bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge, zum zweiten mit dem Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen und zum dritten mit einer neuen Art der sozialen Einbindung. Diese drei Momente bilden ein allgemeines, ahistorisches Modell der Individualisierung. Wir sehen dieses Modell genauer, wenn wir es entlang einer zweiten Dimension begrifflich differenzieren, nämlich nach (objektiver) Lebenslage und (subjektivem) Bewusstsein (Identität, Personwerdung).

Der Individualisierungsprozess weist immanente Widersprüche auf. Individualisierung vollzieht sich unter den Rahmenbedingungen eines Vergesellschaftungsprozesses, der individuelle Verselbstständigungen gerade in zunehmenden Maße unmöglich macht: der Einzelne wird zwar aus traditionalen Bindungen und Versorgungsbezügen herausgelöst, tauscht dafür aber die Zwänge des Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz samt den damit verbundenen Standardisierungen und Kontrollen ein. So treten an die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des Einzelnen prägen und ihn zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen.

Individualisierung bedeutet also Marktabhängigkeit in allen Dimensionen der Lebensführung. Die entstehenden Existenzformen sind der vereinzelte, sich seiner selbst nicht bewusste Massenmarkt und Massenkonsum für pauschal entworfene Wohnungen, Wohnungseinrichtungen, tägliche Gebrauchsartikel, über Massenmedien lancierte und adoptierte Meinungen, Gewohnheiten, Einstellungen, Lebensstile. Individualisierungen liefern die Menschen an eine Außensteuerung und –standardisierung aus, die die Nischen ständischer und familialer Subkulturen noch nicht kannten.

Vor diesem Hintergrund ist die Privatsphäre nicht das, was sie zu sein scheint, nämlich eine gegen die Umwelt abgegrenzte Sphäre, sondern die ins Private gewendete und hineinreichende Außenseite von Verhältnissen und Entscheidungen, die anderswo, nämlich in den Fernsehanstalten, im Bildungssystem, in den Betrieben, am Arbeitsmarkt, im Verkehrssystem etc., unter weitgehender Nichtberücksichtigung der privat-biographischen Konsequenzen getroffen werden.

Individualisierung löst die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen, sie wird offen und entscheidungsabhängig die Aufgabe des einzelnen Handelnden. Biographien werden also „selbstreflexiv“. Der Einzelne muss lernen, sich selbst als Handlungszentrum in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf zu begreifen. Gefordert ist ein aktives Handlungsmodell des Alltags, das das Ich zum Zentrum hat, ihm Handlungschancen zuweist und eröffnet und es auf diese Weise erlaubt, die aufbrechenden Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten in bezug auf den eigenen Lebenslauf sinnvoll kleinzuarbeiten.

Was die Lebensstilanalyse leisten kann und könnte
Es wäre längst an der Zeit, sich in der Gemeinde der SozialwissenschafterInnen (oder bescheidener: der SoziologInnen) auf einen verbindlichen Rahmen des Lebensstilkonzepts zu einigen. Mit einem solchen müsste klar werden, was die konstitutiven Komponenten und wesentlichen Lebensstildimensionen sind, die Träger von Lebensstilen müssten ersichtlich werden, und schließlich müssten neben der Analyse von Werten, Einstellungen und Konsummustern auch die Untersuchung von Lebensstilstrategien von Statusgruppen möglich sein.

Lebensstile wären dann bestimmbar als raum-zeitlich strukturierte Muster der Lebensführung, die von materiellen und kulturellen Ressourcen, der Familien- und Haushaltsform und den Werthaltungen abhängen. Die Ressourcen geben Auskunft über die Lebenschancen, die Familien- und Haushaltsform beschreibt die Lebens-, Wohn- und Konsumeinheit, die Werthaltungen definieren die vorherrschenden Lebensziele, prägen die Mentalitäten und kommen in einem spezifischen Habitus zum Ausdruck.

In dem Maße, in dem die theoretische Verfeinerung des geschilderten Rahmens gelingt, wird Lebensstil nicht nur ein vergleichbarer Grundbegriff wie Klasse und Schicht, sondern in der Konjunktion von Lebenschancen und Lebensstilen rückt auch ein zentrales Thema der klassischen Soziologie wieder in den Mittelpunkt: das Problem der Lebensführung.

Literatur
Becher, Ursula A. J., 1990: Geschichte des modernen Lebensstils. Essen – Wohnen – Freizeit – Reisen, München: C. H. Beck
-, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Bourdieu, Pierre, 1970: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M.: Suhrkamp
-, 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Müller, Hans-Peter, 1992: Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp
Weber, Max, 1978 (1920f): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1-3, Tübingen: Mohr, 1985 (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (Studienausgabe), Tübingen: Mohr

Integration und Anerkennung

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eine philosophische Annäherung

von Alfred Rammer

(aus: Public Observer Nr. 40 v. 25. 3. 2007)

In der Ausgabe 4/2006 dieser Zeitschrift stellte ich die Frage „Wer lässt sich schon integrieren“. Angestoßen wurden meine Überlegungen von der Integrationsstudie, die der Nürnberger Richter und Islamexperte Mathias ROHE im Auftrag des Ministeriums für Inneres erarbeitete und Auskunft über die Lage der in Österreich lebenden Moslems geben sollte. Zu tun war mir allerdings nicht um eine zusätzliche Erörterung besagter Studie sondern um die Frage, weshalb in einer (in jeder?) Gesellschaft des 21. Jahrhunderts „Integration“ als Forderung an eine Minderheitsgesellschaft dermaßen zu Ehren kommen kann, wo sich doch moderne Gesellschaften recht schnell als individualistisch, enthistorisiert, globalistisch etc. beschreiben lassen.

Während jeder einzelne Bürger der Mehrheitsgesellschaft danach lechzt, gerade nicht integriert zu sein, seine eigene Fasson zu leben, fordert man von den Angehörigen der Minderheitengesellschaften unter dem unverdächtigen Schlagwort „Integration“ in Wahrheit oft bloß demütige Anpassung, und auch das ist eigentlich noch zuviel behauptet. Es lässt sich ja in einer derart differenzierten Gesellschaft wie der unsrigen kaum mehr ausmachen, woraufhin eigentlich zu integrieren oder sich anzupassen sei, doch einig wird man sich offensichtlich recht leicht darin, was einem bei den „Anderen“ jeweils nicht geheuer ist. Und diese Latte kann man dann beliebig hoch hängen, so hoch jedenfalls, dass das Ergebnis eigentlich immer schon feststeht: die Anderen passen nicht dazu,sollen weg.

Die Integrationskeule, mit der der aufgeklärte Europäer seine latenten wie auch offen zur Schau getragenen Ausländerphobien pflegt, lässt mich vermuten, dass wir die Integrationsthematik erneut reflektieren sollten. Denn so ungeprüft und unpassend das Wort auch in den Mund genommen wird, der Begriff ist beileibe nicht obsolet geworden, eine reflexiv gewordene Gesellschaft kann sich der Frage nicht einfach entschlagen, was die Gesellschaft zusammenhält. Nun sind die Versuche einer normativ neutralen Konzeption sozialer Integration entweder gescheitert, oder die Konzeption wird von Menschen, ihren Bedürfnissen und Ängsten entleert“ und nur noch sozialtechnologisch gedacht.

Als Alternative, die ich im Public Observer 4/2006 knapp dargelegt habe, bietet sich die Idee von der Gleichwertigkeit der Menschen und der Gewaltfreiheitder Verhältnisse und Beziehungen an. Ins Zentrum eines derartigen Konzepts rückt ein Begriff, der implizit eigentlich schon immer in der politischen Philosophie eine gewichtige Rolle spielte, von ARISTOTELES’ Version des Menschen als „zoon politicon“ bis zu KANTS Feststellung, dass die Freiheit des Einen durch die Freiheit des Anderen begrenzt werde: Anerkennung.

Das Wort „anerkennen“ selbst entwickelte sich im 16. Jahrhundert aus dem Wort „erkennen“. „Erkennen“ meinte zunächst „durch die Sinne wahrnehmen“, „durch Vergleich unterscheiden und wiedererkennen“, „durch Analyse herausfinden und einsehen“ und schließlich „durch richterliche Gewalt entscheiden“, wie uns das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder GRIMM lehrt. In der Bedeutung von „durch Kenntnis von der Wahrheit eines Sachverhalts überzeugt sein“ geht „erkennen“ in die Bedeutung von „anerkennen“ über. In die Philosophie findet die Problematik dann mit den Arbeiten Johann Gottlieb FICHTES Eingang.

Philosophische Annäherungen

Auf seiner Suche nach dem Geltungsgrund absoluter Erkenntnis führt Johann Gottlieb FICHTE den Begriff der Anerkennung in seiner Naturrechtslehre ein, um das Rechtsverhältnis als notwendige Voraussetzung des Selbstbewusstseins eines Vernunftwesens zu deduzieren. Mit dem Versuch einer apriorischen Begründung des Rechtsverhältnisses sucht FICHTE, zwei seiner Meinung nach von KANT unzureichend gelösten Problemen zu begegnen. Dieser hätte, indem er das Ich als Ermöglichungsgrund der Erfahrungserkenntnis gesetzt hatte, auch erklären müssen, wie Selbstbewusstsein möglich ist, wenn doch selbiges erst im Gegenstandsbewusstsein in Erscheinung tritt. KANT jedoch hat die interne Verfassung des Selbstbewusstsein einfach unerreichbar jenseits einer Wissensgrenze angesiedelt. Zudem hat KANT die Existenz anderer vernünftiger Wesen lediglich vorausgesetzt, ohne sie zu begründen. Wenn nun, so FICHTE, vernünftige Wesen seines gleichen außer sich im reinen Selbstbewusstsein unmittelbar nicht gegeben sind – wie kommt der Mensch dann dazu, diese anzunehmen und anzuerkennen? Diese Frage kann nun FICHTE nicht einfach dadurch beantworten, dass er das Selbstbewusstsein als Reflexion des Ich bestimmt, denn diesfalls würde er ja selbst fehlerhaft zirkulär argumentieren, insofern der Begriff des Ich immer schon einen Selbstbezug voraussetzt. Um seine Wirklichkeit setzen zu können, so argumentiert er in seiner Naturrechtslehre, muss das Subjekt des Selbstbewusstseins schon vorher ein Objekt als solches gesetzt haben. Wenn aber das Ich nicht aus sich selbst heraus bestimmt werden kann, dann muss es eben von außen bestimmt werden. So kommt FICHTE zu der Schlussfolgerung, dass vom Ich ein außerhalb desselben liegendes Nicht-Ich zu unterscheiden ist. Nun kann das Ich zu einem Bewusstsein von sich kommen, indem es das Nicht-Ich bestimmt und im selben Moment von diesem bestimmt wird, es ist bestimmt und bestimmend zugleich. Die Bestimmtheit des Ich und seine Fähigkeit zur Bestimmung des Nicht-Ich bringt FICHTE in Einklang, indem er das Bestimmtsein des Subjekts zur Selbstbestimmung als Aufforderung an dieses ausgeführt sieht, womit sowohl der Auffordernde wie auch der Aufgeforderte als vernünftige Wesen vorgestellt, das ursprüngliche Verhältnis vernünftiger Wesen als Wechselwirkung bestimmt werden.

Vom interpersonalen Wechsel- zu einem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis kommt FICHTE, indem er den Auffordernden als die Sphäre der durch seine formale Freiheit möglichen Handlungen beschränkend und dadurch dem Aufgeforderten den Spielraum, den dieser benötigt, um die Aufforderung in Freiheit zu erwidern, zugestehend, sieht. Bei seiner Antwort – so er sich entscheidet, zu antworten – beschränkt der Aufgeforderte gleichermaßen seine Willkürfreiheit und gibt dem Anderen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung. In dieser Weise erfahren beide Subjekte am jeweils Anderen ihr Selbst, indem sie ihr eigenes Anderssein, die schrankenlose Willkür, negieren. Als Minimalbedingungfür das freie Selbstbewusstsein betrachtet FICHTE die rechtliche Anerkennung, bei der jedes Individuum zugunsten der Möglichkeit der Freiheit des Anderen seine Freiheit beschränkt.

Die in dieser Intersubjektivität konstitutive Mangelhaftigkeit erachtet FICHTE als wesentlich zum Menschen gehörig, erst durch sie wird der Mensch bildungsfähig. Menschwerdung ist demzufolge nur so möglich, dass man dem Menschen eine Erziehung zur freien Selbsttätigkeit zukommen lässt.

Diese Erziehung sieht er zunächst in der Herbeiführung rechtlicher Anerkennungsverhältnisse gewährleistet, doch erkennt er bald, dass rechtliche Anerkennung nur unter der einschränkenden Bedingung der Wechselseitigkeit möglich ist. In seinen späteren Arbeiten wird daraus ein Problem der Gewissensbildung, denn sittliche Anerkennung erlaubt auch die Erwiderung unzulänglichen Anerkanntwerdens mit der vollständigen Anerkennung des Anderen. Schließlich sieht er auf einer dritten „Anerkennungsstufe“ die „unmittelbare Erscheinung Gottes“ im Anderen anerkannt. Diese christlich- religiöse Anerkennung gewährleistet, so FICHTE, dass auch Missachtung, Verletzung und Kränkung mit vorbehaltloser Verzeihung und bejahendem Akzeptieren des Peinigers beantwortet werden kann.

Georg Wilhelm Friedrich HEGEL sieht den weltgeschichtlichen Gang des Werdens der Sittlichkeit als einen ineinander greifenden Prozess der Vergesellschaftung und Individuierung und lehnt die atomistischen Prämissen des neuzeitlichen Naturrechts ab. KANT und FICHTE hätten, so HEGEL, die sittliche Gemeinschaft als Konglomerat isolierter Einzelsubjekte konzipiert und somit Sittlichkeit als Resultat von Vernunftleistungen, die dem ursprünglich ichbezogenen Subjekt die Kontrolle seiner unsittlichen Anlagen gestatten gedeutet.

So gesehen jedoch ist die sittliche Gemeinschaft Produkt einer einem „Naturzustand“ von außen Hinzugegebenes. Für diese Deutung jedoch kann sich HEGEL nicht erwärmen. Der Naturzustand“ ist bei ihm bereits durch elementare Formen intersubjektiven Zusammenlebens charakterisiert. Sein Augenmerk gilt nicht der Voraussetzung der Gemeinschaftsbildung, sondern dem Entwicklungsprozess von anfänglichen Formen sozialen Zusammenlebens zur sittlichen Gemeinschaft. Die sittlichen Verhältnisse einer Gesellschaft begreift er als Niederschlag einer Bewegung des Anerkennens, die sukzessive reifere Formen der Sittlichkeit hervorbringt. Als Motor dieser Bewegung ortet er ein in der praktischen Intersubjektivität angelegtes Spannungsmoment, durch das der Kampf um Selbstbehauptung in einen Kampf um Anerkennung transformiert wird.

In der Phänomenologie des Geistes analysiert HEGEL die Bewegung des Anerkennens, indem er den Konflikt darstellt, in dem sich das Subjekt findet, wenn es zu einem Bewusstsein von sich selbst kommen will. Den Ursprung hat dieser Konflikt im Begehren des Subjekts nach totaler Selbstbestimmung. Dieses Begehren aber kann nicht dadurch gestillt werden, dass der Andere als nichtig erklärt wird. Erst in einem anderen Selbstbewusstsein, so schlussfolgert HEGEL nach ausführlicher Analyse, erreicht das Selbstbewusstsein seine Befriedigung.

Das Begehren des Subjekts nach vollständiger Selbstbestimmung mündet bei ihm in eine Bewegung des Anerkennens, in der die beteiligten Subjekte ihre Ansprüche nur in komplementärer Übereinkunft behaupten können. Individuation und Vergesellschaftung fallen in der Bewegung des Anerkennens zusammen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Bewegung des Subjekts in der Beziehung auf ein anderes kein einseitiges Tun bleiben kann. Der Andere muss an sich selbst vollziehen, was sein Gegenüber an ihm tut. Das eine Subjekt kann das andere nur insofern negieren, als dieses sich selbst zugunsten des einen negiert. Diese Selbstnegation geschieht in der Anerkennung der Selbstständigkeit des Anderen. So sind also beide Subjekte Teil eines wechselseitigen und sich selbst fundierenden Konstitutionsprozesses.

HEGEL folgend lassen sich zwei Dimensionen der Anerkennung unterscheiden: zum einen die Anerkennung als Wechselbeziehung zwischen Subjekten, zum anderen die Anerkennung als Verhältnis von Einzelwillen und Allgemeinwillen. Diesen beiden Dimensionen korrelieren zwei Stufen eines Konflikts. Auf der ersten Stufe kommt es zu einem Kampf um Anerkennung. Hier geht es um die Selbstbehauptung des einen gegen ein anderes Subjekt, wobei beide noch nicht die Erfahrung ihrer Identität gemacht haben und deshalb die Selbstständigkeit des Anderen nicht ertragen können. Gelöst kann dieser Konflikt selbstredend nicht mit der Vernichtung des Anderen werden, da damit auch die Anerkennung durch diesen verunmöglicht würde. Beide Subjekte müssen sich vielmehr zu einer wechselseitigen Bejahung ihrer Ansprüche durchringen, deren normativer Kern im Rechtsverhältnis eine intersubjektiv verbindliche Gestalt annimmt. So wird also der Konflikt um Anerkennung durch die wechselseitige Garantie von Handlungsspielräumen beigelegt, in denen die je eigene Selbstständigkeit konfliktfrei entfaltet werden kann.

Nun macht sich jedoch auf der zweiten Stufe des Anerkennens der Allgemeinwille gegenüber dem Einzelwillen geltend. In dem Umfang, in dem die Freigabe des Anderen in der Vereinnahmung durch das „Wir“ des Gemeinsinns aufgehoben wird, gerät das Anerkennungsverhältnis zunehmend asymmetrisch. Im Staat werden individuelle Besonderheiten nur mehr sehr bedingt Anerkennung. Mit fortschreitender Institutionalisierung von Anerkennungsverhältnissen werden die auf der ersten Stufe des Anerkennens erkämpften Handlungsspielräume zugunsten allgemeiner Interessen wieder beschnitten. Es ist also unübersehbar, dass HEGELS Anerkennungslehre nicht auf die Anerkennung und Selbstfindung des Einzelnen in seiner Besonderheit, sondern auf die Anerkennung als „Glied eines Volkes“ zielt. Das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbehauptung und Vereinnahmung erscheint als Motor sowohl der individuellen wie auch der gesellschaftlichen moralischen Entwicklung zur Sittlichkeit.

Sozialwissenschaftliche Weiterführungen

Die Psychoanalytikerin Jessica BENJAMIN entwickelt ihre anerkennungstheoretischen Überlegungen in einer Interpretation der psychoanalytischen Konzeption der frühen Entwicklung des Selbst. Ausgangspunkt bei ihren Reflexionen ist dabei das Problem der Herrschaft. Feministisch inspiriert wendet sie sich gegen FREUDS Analyse des Herrschaftsproblems, weil dort lediglich Männer in den Blick genommen sind. BENJAMIN dagegen betont. dass sich das Geschlechterverhältnis als komplementäre Beziehung zwischen Mann und Frau beschreiben lässt, in der die Frau als die primäre Andere des Mannes fungiert, als sein Gegensatz, als Objekt für ihn als Subjekt. So wird das Geschlechterverhältnis als ein Herrschaftsverhältnis vorgeführt, dem ein Dualismus von Abhängigkeit und Autonomie zugrunde liegt. Herrschaft wird begriffen als zweiseitiger Prozess, der die Beteiligung sowohljener, die sich der Macht unterwerfen, als auch jener, die Macht ausüben.

Es ist nun keineswegs überraschend, dass sich BENJAMIN der Herausbildung von psychischen Strukturen im Selbst, die Herrschaft bedingen oder zulassen, zuwendet. Die Genese dieser Strukturen sieht sie in den frühen Primärbeziehungen begründet, die im erwachsenen Liebesleben verstetigt werden. Herrschaft geht ihr zufolge aus einer Veränderung der Beziehung zwischen dem Selbst und der ersten Anderen hervor, ist Folge eines komplexen psychischen Entwicklungsprozesses. Längst hat sich ja die Freudsche Psychoanalyse von einer bloß intrapsychischen zu einer intersubjektiven Theorie entwickelt, und diese intersubjektive Perspektive führt BENJAMIN konsequent aus. Aus solcher Sicht gelangt das Selbst zu einem Begriff seiner selbst über Differenzierungsprozesse, die nur in Beziehungen, also auf der Grundlage einer Gegenseitigkeit der Bezugnahme zweier Subjekte zueinander zu denken sind, wobei sie Gegenseitigkeit als Reziprozität der Beziehungsgestaltung, die auf ein Gleichgewicht von Selbstbehauptung und Anerkennung zielt, beschreibt.

Anerkennung gerät bei BENJAMIN also zum Bezugspunkt, von dem aus über diesen intersubjektiven Standpunkt die Entwicklung des Selbst nachvollzogen wird. Erst die Anerkennung des Anderen die eigenen Gefühle, Intentionen und Aktionen sinnvoll, sie ist Voraussetzung für die Entwicklung von Selbsttätigkeit und Urheberschaft. Anerkannt als eigentätiges, eigeninitiatives Selbst kann ein Subjekt aber nur von einem solchen Anderen werden, der selbst als eigenständiges Subjekt anerkannt ist, der sich dem Subjekt gegenüber also behaupten kann.

In Anlehnung an HEGEL, der Anerkennung und Selbstbehauptung in einem Spannungsverhältnis, welches er mit der Metapher von Herrschaft und Knechtschaft verdeutlicht, stehen sieht, beschreibt BENJAMIN das Ich aus psychoanalytischer Sicht anfangs in einem Zustand der „Allmacht“ befindlich, den es in der Begegnung mit dem Anderen bestätigen möchte, was ihm aber nicht gelingt, weil es dazu den Anderen anerkennen müsste, womit es aber seinen Absolutheitsanspruch aufgeben müsste. Wie der Mensch mit diesem Paradoxon umzugehen lernt, zeigt BENJAMIN mit Hilfe von WINNICOTS Arbeiten anhand des heranwachsenden Kindes. Zunächst ist die Mutter Bestandteil des kindlichen Bewusstseins, doch schließlich nimmt es selbige auch als Bestandteil der äußeren Realität wahr. Diese Differenzierungsleistung nennt WINNNICOTT „Zerstörung“. In der Phantasie wird das zuvor lediglich als Bestandteil des kindlichen Bewusstseins existierende andere Subjekt zerstört, damit das Kind erkennen kann, dass das mütterliche Subjekt in der Realität überlebt hat. Das Kind erkennt und anerkennt, das das andere Subjekt der Kontrolle des eigenen Bewusstseins nicht unterworfen, also unabhängig, ist.

Es wird deutlich, worauf WINNICOTT und BENJAMIN hinauswollen: die Negation des anderen Subjekts in der eigenen Phantasie wird als Voraussetzung für dessen Anerkennung als unabhängiges Subjekt identifiziert und so ein Ausweg aus dem Paradoxon des Verhältnisses von Herr und Knecht gefunden. Freilich liegt im Differenzierungsprozess der Zerstörung auch die Gefahr des Misslingens, was dazu führt, dass dann die Beziehungen zweier Subjekte nicht auf gegenseitiger Anerkennung, sondern auf der Regulierung des einen Subjekts durch das andere beruhen und somit Herrschaftsverhältnisse repräsentieren. Herrschaftsstrukturen sind also für BENJAMIN Ausdruck für die Unfähigkeit, die Spannung von Selbstbehauptung und Anerkennung zu ertragen. Dieses Spannungsverhältnis muss selbstredend nicht nur in der Kindheit, sondern immer wieder neu ausgelotet und modifiziert werden.

George Herbert MEAD versucht, die Aporien des bewusstseinsphilosophischen Reflexionsmodells mit einer transzendentalen Lösung des Problems der Selbstbezüglichkeit zu lösen. Dieses Problem des „Zirkels der selbstvergegenständlichenden Reflexion“ tritt ja bereits bei FICHTE auf. Die Lösung sieht er darin, dass er jenen reflexiven Akt nicht als subjektiven Akt im Sinne der klassischen Bewusstseinsphilosophie, sondern als sozialen Akt auffasst. Von Charles DARWIN inspiriert schließt er an den durch den deutschen Idealismus konzipierten Entwurf des selbstbewussten Handlungssubjekts an und deutet die menschliche Erkenntnisfähigkeit innerhalb der evolutionären Entwicklung. Als Mechanismus der gegenseitigen Bezugnahme zweier Subjekte aufeinander steht das Thema Anerkennung implizit stets im Hintergrund. Als Grundprinzip gesellschaftlicher Organisation betrachtet MEAD die gegenseitige Bezugnahme der Subjekte aufeinander, und dementsprechend ist für ihn Identität nur in Bezug zur sozialen Umgebung des Individuums vorstellbar. Er arbeitet heraus, wie soziale Zusammenhänge die Identitätsentwicklung ermöglichen und gestalten und blickt dabei auch auf die evolutionstheoretische Frage nach der Entwicklung der Gesellschaft allgemein. Gesellschaft ist für MEAD also immer auch etwas Dynamisches, ein Prozess, in dem nicht nur gesellschaftliche Zusammenhänge vom Individuum verinnerlicht werden, sondern auch das Individuum selbst die Haltung des verallgemeinerten Anderen verändern kann.

Der Prozess der Hereinnahme gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen in das Subjekt ist ein Element des Identitätsbildungsprozesses, der zur Bildung des sich durch die Augen des verallgemeinerten Anderen als Objekt sehenden Selbst (Me) führt. Dieses „Me“ hat nach MEAD jene Gewohnheiten und Reaktionen in sich, über die auch alle anderen verfügen, weil nur so der Einzelne Mitglied der Gesellschaft sein kann. Ohne dass MEAD ausdrücklich Bezug darauf nimmt, ist es doch klar, dass die gesellschaftlich organisierten Haltungen und ihre Träge vom Subjekt anerkannt werden müssen, um in sich hineingenommen zu werden.

Mit bisher Dargelegtem ist lediglich ein Teilprozess der Identitätsherstellung beschrieben. Den zweiten Teil – es ist die Phase des sogenannten „I“ – sieht MEAD in der Antwort des Einzelnen auf die Haltung der anderen ihm gegenüber. Das „I“ erfasst das kreative Reaktionspotenzial des Subjekts, die Art, wie man sich ausdrückt. Die Handlungsimpulse des „I“ werden vom „Me“ in eine soziale Form überführt und so reflexiv der Erfahrung zugänglich gemacht. Identität umfasst eben diese Wechselbeziehung zwischen „I“ und „Me“, sie ist bei MEAD ein gesellschaftlicher Prozess, der aus diesen beiden Phasen besteht. Sie begründet das Selbst, das sich sowohl in einer biographisch konsistenten Weise über den verallgemeinerten Anderen an der Gemeinschaft orientieren wie auch eigene Individuierungsansprüche verfolgen und über sie die Gesellschaft verändern kann.

Nun ortet MEAD eine Spannung zwischen internalisierten Gesamtwillen des Subjekts und seinen Individuierungsansprüchen. Diese tritt etwa dort auf, wo die Indivierungsansprüche des „I“ mit den bis dahin anerkannten und verinnerlichten gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen unvereinbar sind. Diesfalls wird das „Me“ als Ausdruck des generalisierten Gesamtwillens angezweifelt, das eigene Handeln wird an einem idealisierten, erweiterten „Me“ ausgerichtet. Der generalisierte gesellschaftliche Gesamtwille wird also gleichsam erweitert. Zudem reagiert jedes „I“ auf den Prozess der Hereinnahme gesellschaftlich organisierter Verhaltenserwartungen auf je eigene Weise. Und eben diese spezifischen Reaktionen machen die je spezifische Identität des Subjekts aus. Aber MEAD hält daran fest, dass auch diese Identität eine gesellschaftliche ist, in ihrer Beziehung zu anderen verwirklicht wird, also von anderen anerkannt werden muss, um jene Werte zugeschrieben zu bekommen, die man selbst zugeschrieben haben will.

Es ist deutlich geworden, dass bei MEAD der Begriff der Anerkennung jenen wechselseitigen Prozess charakterisiert, in dem sich ein Subjekt positiv auf andere bezieht und in seinen Handlungen wiederum von jenen als Individuum bestätigt wird. Nur durch diesen Prozess wechselseitiger Bezugnahme kann ein Subjekt zu Identität gelangen, sowohl hinsichtlich der gesellschaftlich organisierten Haltungen, die es mit den anderen teilt wie auch hinsichtlich jener spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten, die es mit den anderen Gesellschaftsmitgliedern nicht teilt.

Mit dem Begriff der Anerkennung meint Axel HONNETH, die in sozialen Konflikten konstitutiven individuellen Erwartungen und Ansprüche adäquat analysieren zu können. Die Erfahrung des Entzugs von sozialer Anerkennung, von Entwürdigung und Missachtung hat im Zentrum eines sinnvollen Begriffs gesellschaftlich verursachten Leids und Unrechts zu stehen. Wenn gesellschaftliche Akteure Aspekte ihrer Persönlichkeit, auf deren Anerkennung sie ein Anrecht zu haben glauben, missachtet sehen, liegt eine Erfahrung sozialen Unrechts vor, weshalb es notwendig ist, ein hinreichend differenziertes Anerkennungskonzept zu entwickeln, um soziale Unrechtserfahrungen kategorial zu entschlüsseln. Für HONNETH ist also die gesellschaftliche Wirklichkeit normativ verfasst. Diese sozialontologische These stützt er auf die Einsicht, dass jede Gesellschaft durch Interaktionsbeziehungen, die in unterschiedlichen Prinzipien der reziproken Anerkennung verankert sind, konstitutiert wird. Daraus folgt, dass es normative Erwartungen sind, die der Einzelne an die Gesellschaft richtet und deren Missachtung er als Unrecht wahrnimmt. Eine derart verstandene soziale Wirklichkeit lässt sich adäquat nur durch eine normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie analysieren, deren Grundbegriffe auf eben diese Erwartungen zugeschnitten sind, weshalb die Kategorie der Anerkennung ein sozialphilosophischer Schlüsselbegriff ist.

Das soziale Wesen liegt nach HONNETH darin, dass nur jene Sozialbeziehungen, die Einstellungen wechselseitiger Anerkennung verlangen, zur Ausbildung von Aspekten der positiven Selbstbeziehung beitragen. Daraus folgt, dass die Teilnahme an den gesellschaftlich ausgebildeten Anerkennungsverhältnissen eine notwendige Voraussetzung für die Bildung einer intakten individuellen Identität und eines positiven individuellen Selbstverhältnisses ist. Der Inhalt dieser (formalen) Anerkennungserwartungen aber hängt von der Struktur der Gesellschaft ab, der man angehört. Insofern sind die menschlichen Bedürfnisse und Erwartungen veränderbar.

Die moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft sieht HONNETH durch drei Anerkennungsprinzipien konstituiert: die Liebe, die Rechtsgleichheit und die individuelle Leistung. Diese sind in entsprechenden „Anerkennungssphären“, das sind Interaktionsräume, die zwar institutionell strukturiert, aber grundsätzlich institutionell variabel, also geschichtlich veränderbar sind, aktualisiert. Die Institutionen wiederum gelten HONNETH als Verkörperungen von Anerkennungsprinzipien. Die Liebe ist Anerkennungsprinzip, weil die Praxis der Fürsorge und Zuneigung eine Bejahung des Anderen als leiblich-bedürftiges Wesen beinhaltet. Mit der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bildet sich eine in der bürgerlichen Ehe und der Kindheit institutionalisierte entsprechende Anerkennungssphäre heraus.

Ähnliches gilt auch für den modernen Rechtsstaat, der als Institutionalisierung des Grundsatzes der Rechtsgleichheit zu verstehen ist. Rechtsgleichheit ist für HONNETH ein Prinzip reziproker Anerkennung, weil die sie praktizierenden Akteure einander als Träger gleicher Rechte und Pflichten behandeln. Insofern in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft die soziale Wertschätzung des Einzelnen eine Funktion der gesellschaftlichen Nützlichkeit der von ihm erbrachten Leistungen ist, zeigt sich das Prinzip der individuellen Leistung. Soziale Konflikte sind Kämpfe um Anerkennung, Auseinandersetzungen um die angemessene Interpretation der gesellschaftlich konstitutiven Anerkennungsprinzipien, welche von den im Konflikt befindlichen Akteuren für legitim erachtet und als Rechtfertigungsinstanz behandelt werden. Insofern hat also die Auseinandersetzung eine von den Beteiligten geteilte argumentative Basis. Es gibt ja keine neutrale, von Wertungen freie Auslegung und Anwendung der fraglichen Prinzipien. Die Auseinandersetzung sieht HONNETH darin begründet, dass einige Akteure meinen, dass die gesellschaftlich praktizierte Auslegung der Anerkennungsprinzipien eine nicht zu rechtfertigende Geringschätzung spezifischer eigener Fähigkeiten beinhalte. Ein derartiger Kampf um Anerkennung (sozialer Konflikt) läuft als Austragung der moralischen Dialektik von Allgemeinem und Besonderem ab: unter Anwendung eines allgemeinen Prinzips der wechselseitigen Anerkennung kann immer wieder eine je spezifische, relative Differenz eingeklagt und eine Erweiterung der eingespielten Anerkennungsverhältnisse erzwungen werden.

Eine kritische Gesellschaftstheorie muss, so HONNETH, nicht nur ein deskriptives, sondern auch ein normatives Element enthalten, muss also politische Ethik sein. Notwendige Bedingung für eine intakte individuelle Identitätsbildung ist die Teilnahme an Interaktionen, die durch die gesellschaftlich verankerten Prinzipien reziproker Anerkennung strukturiert sind. Aus Sicht ihrer Mitglieder legitimieren sich infolge dessen Gesellschaften nach Maßgabe ihrer Fähigkeit, verlässliche Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung auf unterschiedlichen Ebenen zu gewährleisten. Die normative Integration von Gesellschaften ist also nur auf dem Weg der Institutionalisierung von Anerkennungsprinzipien, die nachvollziehbar regeln, durch welche Formen der wechselseitigen Anerkennung die Mitglieder in den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang einbezogen werden, zu verwirklichen.

Daraus ergibt sich für HONNETH, dass eine politische Ethik oder Gesellschaftsmoral auf die Qualität der gesellschaftlich gewährleisteten Anerkennungsbeziehungen zugeschnitten sein muss. Die Gerechtigkeit oder das Wohl der Gesellschaft ist also an dem Grad ihrer Fähigkeit, Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung sicherzustellen, unter denen die persönliche Identitätsbildung ausreichend vor sich gehen kann, zu bemessen. Da sich nach HONETH eine zeitgemäße politische Ethik an den für die jeweilige Gesellschaftsform konstitutiven Anerkennungsprinzipien zu orientieren hat, sind es die Grundsätze der Liebe, der Rechtsgleichheit und der persönlichen Leistung, durch die unter den Bedingungen der Moderne die „Idee der sozialen Gerechtigkeit“ auszulegen sei.

Die Erfordernisse der Sozialintegration, aus denen die Prinzipien der politischen Ethik abgeleitet wurden, müssen, so HONNETH, eine Entsprechung in den Erwartungshaltungen der vergesellschafteten Subjekte aufweisen, ansonsten wäre diese Ableitung nach seiner Überzeugung nicht gerechtfertigt. Einen Aufweis dieser Entsprechung beansprucht HONNETH mit dem Hinweis, dass die für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft charakteristischen Anerkennungserwartungen nicht einfach empirisch gegebene, sondern „quasitranszendentale“ Interessen der menschlichen Gattung seien, zu leisten.

HONNETH betont, dass seine Theorie sozialer Gerechtigkeit von einer „Konzeption des guten Lebens“, die die Bedingungen identifiziert, die für eine intakte persönliche Identitätsbildung und gelingende individuelle Selbstverwirklichung notwendig sind, abhänge. Nur so ist es möglich, von der These, dass eine gerechte Gesellschaft ihren Mitgliedern eine intakte Identitätsbildung zu ermöglichen habe, zur These zu gelangen, dass eine derartige Gesellschaft ihren Mitgliedern die Partizipation an jenen Interaktionen, durch die die für sie konstitutiven Anerkennungsprinzipien aktualisiert werden, zu ermöglichen habe. Eine derartige Konzeption wird zwar, so HONNETH, auf Grundlage allen zur Verfügung stehenden Wissens entworfen, sie lässt sich aber nicht vollständig von empirischen Befunden oder theoretischen Annahmen decken. Dementsprechend hat also die Anerkennungstheorie lediglich den Status eines hypothetisch generalisierten Entwurfs des guten Lebens.

Resümee und Ausblick

Der der Sache nach schon immer virulente Begriff der Anerkennung findet mit FICHTE und HEGEL Eingang in die philosophische Diskussion. FICHTE fragt danach, wie vernünftige Wesen dazu kommen, ihres gleichen anzunehmen und anzuerkennen. Das Ich kommt zu einem Bewusstsein von sich, indem es das Nicht-Ich bestimmt und im selben Moment von diesem bestimmt wird, es ist bestimmt und bestimmend zugleich. Vom interpersonalen Wechsel- zu einem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis kommt FICHTE dann, indem er den Auffordernden als die Sphäre der durch seine formale Freiheit möglichen Handlungen beschränkend und dadurch dem Aufgeforderten den Spielraum, den dieser benötigt, um die Aufforderung in Freiheit zu erwidern, zugestehend, sieht. Für HEGEL ist der „Naturzustand“ des Menschen bereits durch elementare Formen intersubjektiven Zusammenlebens charakterisiert. Sein Augenmerk gilt dem Entwicklungsprozess von anfänglichen Formen sozialen Zusammenlebens zur sittlichen Gemeinschaft. Die sittlichen Verhältnisse einer Gesellschaft begreift er als Niederschlag einer Bewegung des Anerkennens, die sukzessive reifere Formen der Sittlichkeit hervorbringt. Als Motor dieser Bewegung ortet er ein in der praktischen Intersubjektivität angelegtes Spannungsmoment, durch das der Kampf um Selbstbehauptung in einen Kampf um Anerkennung transformiert wird. Dermaßen philosophisch präpariert (und durch zahlreiche philosophische Reflexionen, die hier unterschlagen werden, weiter entwickelt), findet der Begriff Eingang in die Sozialwissenschaften. Die Psychoanalytikerin Jessica BENJAMIN identifiziert die Negation des anderen Subjekts in der eigenen Phantasie als Voraussetzung für dessen Anerkennung als unabhängiges Subjekt. Für George Herbert MEAD charakterisiert der Begriff der Anerkennung jenen wechselseitigen Prozess, in dem sich ein Subjekt positiv auf andere bezieht und in seinen Handlungen wiederum von jenen als Individuum bestätigt wird. Nur durch diesen Prozess wechselseitiger Bezugnahme kann ein Subjekt zu Identität gelangen, sowohl hinsichtlich der gesellschaftlich organisierten Haltungen, die es mit den anderen teilt wie auch hinsichtlich jener spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten, die es mit den anderen Gesellschaftsmitgliedern nicht teilt.

Eine theoriestrategische Bedeutung erhält der Begriff der Anerkennung bei Axel HONNETH. Der Erwerb sozialer Anerkennung wird nun als normative Voraussetzung allen kommunikativen Handelns gesehen. In einer Art formalen Anthropologie versucht er herauszuarbeiten, was überhaupt alles unter Anerkennung und Missachtung verstanden werden kann. Charakterisiert: Das Thema Anerkennung ist somit in das Zentrum der Auseinandersetzung um Integration gerückt. Damit allerdings tun sich nicht bloß Wege auf, das Problem treffender und schlüssiger zu behandeln, es eröffnen sich damit auch weitere Schwierigkeiten, wie in einer der folgenden Ausgaben erörtert werden wird.

Literatur

Benjamin , Jessica, 1993: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse,

Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt/M:

Fischer

Fichte, Johann Gottlieb, 1979: Grundlage des Naturrechts nach

Prinzipien der Wissenschaftslehre, Neudruck auf der

Grundlage der 2. von Fritz Medicus hrsg. Auflage von 1922,

Hamburg: Meiner (1796)

-, 1983: Die Anweisung zum seligen Leben, 3. Aufl., hrsg. von Verweyen,

Hansjürgen, Hamburg: Meiner (1806)

-, 1962: Die Bestimmung des Gelehrten, in: Ausgewählte Werke in

sechs Bänden, unveränderter photomechanischer Nachdruck

der 1. Aufl., 1910, Leipzig (1794)

Taylor, Charles/Gutmann, Amy (Hg.), 1993: Multikulturalismus

und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M.: Fischer

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 1987: Phänomenologie des Geistes,

Stuttgart: Reclam (1807)

Heitmeyer, Wilhelm/Imbusch, Peter (Hg.), 2005: Integrationspotenziale

einer modernen Gesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag

für Sozialwissenschaften

Taylor, Charles, 1993: Die Politik der Anerkennung, in: Gutmann, A.

(Hg.), 1993

Winnicott, Donald W., 1990: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt,

Frankfurt/M.: Fischer

-, 1995: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart: Klett-Cotta

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