Auch ein Beitrag zur Inhalt-Form-Dialektik sozialistischer Publizistik
von Richard Albrecht
Dr.phil.habil. Robert Steigerwald zum Neunzigsten
„Endlich ist in Deutschland illegal, ohne sich nach der niederträchtigen, junkerlichen Zensur zu richten, eine Broschüre erschienen, die sich mit Kriegsfragen befaßt. Der Autor, der augenscheinlich dem „linksradikalen“ Flügel der Partei angehört, unterzeichnete seine Broschüre mit Junius (was lateinisch „der Jüngere“ heißt) und benannte sie: „Die Krise der Sozialdemokratie“. In einem Anhange sind jene „Thesen über die Aufgaben der in-ternationalen Sozialdemokratie“ wiedergegeben, die schon in die Berner I.S.K. (Internationale Sozialistische Kommission) eingebracht worden waren und in Nr. 3 ihres Bulletins wiedergegeben wurde; sie gehören der Gruppe „Internationale“ an, die im Frühjahr 1915 eine Zeitschriftennummer unter diesem Titel herausgab (mit Beiträgen von Clara Zetkin, Mehring, Rosa Luxemburg, Thalheimer, Dunker, Ströbel u. a.) und die im Winter 1915/1916 eine Konferenz von Sozialdemokraten, die diese Thesen angenommen hatten, veranstaltete, an der Delegierte aus allen Teilen Deutschlands teilnahmen.
Die Broschüre wurde im April 1915 geschrieben, wie der Verfasser in seiner Einleitung, die vom 2. Januar da-tiert ist, sagt, und „ohne jede Änderung gedruckt. Ein früheres Erscheinen wurde durch „verschiedene äußere Umstände“ verhindert. Sie befaßt sich weniger mit der „Krise der Sozialdemokratie“, als mit der Analyse des Krieges, mit der Widerlegung der Legende von seinem nationalen Befreiungscharakter, sowie dem Beweis, daß dies ein imperialistischer Krieg ist, sowohl von seiten Deutschlands, als auch von Seiten der anderen Großmäch-te, ferner mit der revolutionären Kritik des Verhalten der offiziellen Partei. Die in äußerst lebhaftem Tone ge-schriebene Broschüre von Junius hat unzweifelhaft im Kampfe gegen die zur Bourgeoisie und zu den Junkern übergegangene Sozialdemokratische Partei Deutschlands eine große Rolle gespielt und eine große Rolle spielen, und wir beglückwünschen den Autor von ganzem Herzen dazu. […]
Junius hat sich nicht völlig vom „Zentrum“ der deutschen, selbst linken Sozialdemokraten freigemacht, die eine Spaltung fürchten und Angst haben, die revolutionären Losungen ganz auszusprechen. […] Das ist eine falsche Furcht, und die linken Sozialdemokraten Deutschlands werden sich davon freimachen müssen, und werden sich auch davon freimachen. Die Entwicklung ihres Kampfes gegen die Sozialchauvinisten wird dazu führen. Sie kämpfen aber entschieden, fest und aufrichtig gegen ihre Sozialchauvinisten […].“ Andererseits wollte Junius etwas in der Art der menschewistischen „Theorie der Stadien“ traurigen Angedenkens verwirklichen, wollte an-fangen, das revolutionäre Programm zu verwirklichen, indem er mit dem „bequemeren“, „populären“, für die Kleinbürger akzeptablen Ende anfing. Es ist etwas ähnliches wie der Plan, „die Geschichte zu überlisten“, die Philister zu überlisten. […]
Es ist wahrscheinlich, daß solche oder ähnliche Erwägungen bewußt oder unbewußt die Taktik Junius‘ bestimm-ten. Daß sie falsch sind, darüber ist nicht zu reden. In der Junius-Broschüre spürt man die Einzelperson, die kei-ne Kameraden in einer illegalen Organisation hat, die gewohnt wäre, revolutionäre Losungen logisch bis zu Ende zu denken und die Massen in ihrem Geiste zu erziehen. Aber ein solcher Mangel – und es wäre ungerecht, das zu vergessen – ist nicht ein persönlicher Mangel von Junius´, sondern das Resultat der Schwäche aller deutschen Linken, die von allen Seiten in das dichte Netz der Kautskyanischen Heuchelei, des Pedantentums und der „Friedensliebe“ den Opportunisten gegenüben verstrickt sind. Die Anhänger von Junius haben es, trotzdem sie vereinzelt dastanden, fertiggebracht, die Herausgabe illegaler Broschüren und Flugblätter zu beginnen und den Kampf gegen das Kautskyanertum aufzunehmen. Sie werden es verstehen, auch weiter auf diesem richtigen We-ge vorwärts zu schreiten.“1
So beginnt – und endet – W.I. Lenins im Herbst 1916 erstveröffentlichte Kritik der 1915 unter den Bedingungen von Ausnahme- und Belagerungszustand, Militärzensur und Illegalität erarbeiteten und veröffentlichten, pseudonym erschienen Junius-Broschüre. Auf diese wurde ich während der Examensphase meines Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Mannheim (WH) im Winter 1970/71 durch Lektüre der SPARTAKUSBRIEFE2 aufmerksam. Den Junius-Text las ich später so-wohl im Original3 als auch in einem in der damaligen DDR publizierten Sammelband mit Beiträgen Rosa Luxemburgs.4 Und auch Lenins im Zusammenhang mit seiner „gemeinverständlich“ gefaßten global-allgemeinen Imperialismus-Theorie5 stehende Junius-Kritik sollte ich in den frühen 1970er Jah-ren im Sammelband GEGEN DEN STROM von Lenin/Sinowjew6 (wenigstens an)gelesen haben … aber wie auch immer: Anlaß zur Erarbeitung dieser Miszelle und meiner neuerlichen Beschäftigung mit Lenin7 war die (mich politisch, ästhetisch und moralisch abstoßende) Welturaufführung des nach Alfred Döblins epochaler Romantrilogie8 montierten Bühnenstücks Karl+Rosa am Bonner Staatsknetetheater Anfang Oktober 2013.9
Daß Lenin einleitend sowohl auf die sozialistischen „Leitsätze“ als auch auf die illegale deutsche Gruppe „Internationale“ positiv verweist und in diesem Zusammenhang auch Rosa Luxemburg na-mentlich nennt, zeigt, daß er über politische Konstellationen innert der deutschen Sozialdemokratie und ihres „linksradikalen“ Flügels, nicht zuletzt als in der „Zimmerwalder Linken“ politisch aktiver Emigrant in Zürch10, wohlinformiert war und das Pseudonym Junius politisch und personell richtig zuordnen konnte. Und doch war es mir mit meinen Mitteln (bisher) nicht möglich, die These: Lenin wußte genau („he knew for sure“), daß „der Autor“ der Junius-Broschüre die Autorin Rosa Luxemburg war, zu bestätigen, genauer: ich konnte (bisher) die Aussage eines bedeutenden britischen Rosa-Luxemburg-Biographen: Lenin war sich 1915/16 über „die Autorenschaft“ der Junius-Broschüre „nicht im Klaren“,11 nicht falsifizieren – auch wenn Lenins Schlußakkord zu Junius´ (nicht nur persön-licher12, sondern) politischer Isolation als „Resultat der Schwäche aller deutschen Linken“ sowohl de-ren organisatorische Mängel offen benennt als auch Rosa Luxemburgs persönliches Schicksal als poli-tische Gefangene des Wilhelminischen Staates während des „ersten großen Schlachtfest des Todes“ (Thomas Mann) reflektiert.
GEGEN DEN STROM (Sammelband 1921)
Wie zitiert, beginnt Lenins Kritik der Junius-Broschüre mit lobender Anerkennung: daß Junius bei der Analyse des Krieges gegen die Legende seines Befreiungscharakters seine imperialistischen Grundla-ge – und hier entsprechend der Losung: der Hauptfeind-steht-im-eigenen-Land gegen den auch was die Frage der Kriegs“schuld“ betrifft ersten historischen „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer) des Wilhelmischen Deutschland13 – herausarbeite und dabei auch die deutsche Sozialdemokratische Partei kritisierte: „Die Junius-Broschüre ist um großen und ganzen eine ausgezeichnete marxistische Arbeit, und es ist durchaus möglich, daß ihre Mängel bis zu einem gewissen Grade zufälligen Charak-ters sind.“ (416)
Abgesehen von zwei (auch auf mich) schulmeisterlich-belehrend wirkender und so abstrakter wie kur-zer Hinweise Lenins auf methodische Mängel der Junius-Analyse infolge nicht oder „nur halb“ ange-wandter „marxistischer Dialektik“ (419; 412) kritisiert Lenin drei Fehleinschätzungen: einmal als „Hauptmangel der Junius-Broschüre […] das Verschweigen des Zusammenhang des Sozialchauvi-nismus (der Autor gebraucht weder diesen Terminus, noch den weniger genauen Ausdruck Sozialpat-riotismus) mit dem Opportunismus. […] Das ist ein Schritt rückwärts im Vergleich zum historischen Aufsatze von Otto Rühle, der im „Vorwärts“ vom 12. Januar 1916 erschienen ist, wo er frank und frei die Unvermeidlichkeit der Spaltung in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands beweist.“ (416f.) Diese Junius-Kritik schließt an die vermutlich von Lenin formulierte „Prinzipienerklärung“ des Zentralkomitée der S.D.A.P.R Russlands (Bolschewiki) von 1915 („Der Weltkrieg und die Aufgaben der Sozialdemokratie“) an, in der es hieß: „Der Sozialpatriotismus, auf dessen Standpunkt in Deutsch-land sowohl die offen patriotische Mehrheit der früher sozialdemokratischen Führer wie auch das sich oppositionell gebärdende Zentrum der Partei um KAUTSKY steht, […] ist für das Proletariat ein ge-fährlicherer Feind als die bürgerlichen Apostel des Imperialismus, da er, die Flagge des Sozialismus mißbrauchend, die unaufgeklärte Arbeiterschaft irreführen kann. Der rücksichtlose Kampf gegen den Imperialismus (Sozialimperialismus) bildet die erste Vorbedingung zur revolutionären Mobilisation des Proletariats und der Wiederaufrichtung der Internationale.“14
Seine Hauptkritik an Junius verallgemeinert Lenin so: „Der größte Mangel des gesamten revolutionä-ren Marxismus in Deutschland ist das Fehlen einer geschlossenen illegalen Organisation, die system-tisch ihren Weg verfolgte und die Massen im Geiste der neuen Aufgabe erzöge: eine solche Organisa-tion hätte auch dem Opportunismus, sowie dem Kauskyanismus gegenüber eine bestimmte Position einzunehmen.“ (417)
Die zweite Kritikdimension ist die Frage der „nationalen Kriege“. Hier erfährt Junius wohl Lenins Zustimmung – und zugleich dessen Kritik: die „Beurteilung des jetzigen Krieges“ und der „Kampf mit dem Phantom des nationalen Krieges, das die sozialdemokratische Politik gegenwärtig beherrscht“, dürfe nicht „auf alle in einer Zeit des Imperialismus möglichen Kriege“ übertragen werden; ebenso wenig sind „die nationalen Bewegungen gegen den Imperialismus außer acht zu lassen […] Als eine Fortsetzung der nationalen Befreiungspolitik der Kolonien werden ihrerseits nationale Kriege gegen den Imperialismus unvermeidlich sein.“ (419f.) Auch hier verallgemeinert Lenin: „Nationale Kriege gegen die imperialistischen Staaten sind nicht nur möglich und wahrscheinlich, ja, sie sind unvermeid-lich und sowohl progressiv, als auch revolutionär, obgleich natürlich zu ihrem Erfolge entweder die Vereinigung der Anstrengungen einer riesigen Anzahl von Bewohnern der unterdrückten Länder […] erforderlich ist, oder eine besonders günstige Konstellation der internationalen Lage […], oder der gleichzeitige Aufstand des Proletariats in einem der großen Staaten gegen die Bourgeoisie (dieser, in unserer Aufzählung letzte Punkt ist, von Gesichtspunkte des für den Sieg des Proletariates Wün-schenswerten und Vorteilhaften der erste).“ (421f.)
Lenins dritter Kritikpunkt bezieht sich auf „eine andere irrige Erwähnung Junius´“: es geht um die Va-terlandsverteidigung als „politische Kardinalfrage während eines imperialistischen Krieges“ (422) und den damit zusammenhängenden Junius-„Vorschlag, dem imperialistischen Kriege ein nationales Pro-gramm ´gegenüberzustellen´.“ (424) Hier verweist Lenin auf die rückwärtsgewandte Historizität ent-sprechend des Charakters einer „bürgerlich-demokratischen Revolution“ mit „national-bürgerlichem Programm“. Demgegenüber betont Lenin „die objektive Lage“ in den „führenden, größten Staaten Eu-ropas“: hier ginge es „nur in der Richtung nach einer sozialistischen Gesellschaft, einer sozialistischen Revolution“ (424) mit einem „proletarisch-internationalen und sozialistischen Programm“: „Ihr, die Bourgeoisie, führt um des Raubes willen Krieg; wir, die Arbeiter aller kriegsführenden Länder, erkläre euch den Krieg, den Krieg für den Sozialismus – das ist der Inhalt der Rede, mit der die Sozialisten am 4. August 1914 im Parlamente hätten auftreten sollen.“ (426)
Lenins Junius-Kritik ist eingebettet in seine allgemeine Imperialismuskritik in sozialistischer Perspek-tive. In der Junius-Broschüre vermißt der Kritiker sowohl die theoretische als auch und vor allem die praktische Lösung der „Organisationsfrage“ in Form der SPD-unabhängigen und eigenständigen (zu-nächst illegalen) Linksorganisation. Und doch hält der Junius-Kritiker die Differenzen nicht für so ent-scheidend, daß sie nicht in absehbarer Zeit überwunden werden können, erinnert an die 1915/16 auch in Deutschland erfolgte „Herausgabe illegaler Flugblätter und Broschüren“ und klingt aus mit dem op-timistischen Hinweis, daß Junius und Genossen „es verstehen werden, auch weiter auf diesem richti-gen Wege vorwärts zu schreiten […].“ (427)
So gesehen, ist Lenins im Sommer und Herbst 1916 geschriebene und veröffentlichte Kritik der Junius-Broschüre mit ihrem optimistischen Schlußakkord sowohl vom Inhalt her, weil auf Überzeu-gungs- und Lernprozesse setzend15, als auch von der Form her ein Beispiel kritisch-solidarischen Um-gangs in der international ausgerichteten historischen Arbeiterbewegung Europas während des Ersten Weltkriegs.
© Richard Albrech (2015)
Als pdf downloaden: Albrecht LENINS KRITIK DER JUNIUS-BROSCHÜRE 1916
1N. Lenin, Über die Junius-Broschüre [1916]; in: N. Lenin; G. Sinowjew, GEGEN DEN STROM. Aufsätze aus den Jahren 1914-1916. Autorisierte Übersetzung von Dr. Frieda Rubiner. Hamburg: Verlag der Kommunistischen Internationale, 1921, 536 p. [Fotomechanischer Raubdruck o.J., Preis 15 DM]: 415-427 (hiernach alle weiteren Zitate im Text in Klammern); der Netzfassung des Textes entspricht die für die deutschsprachige Lenin-Werkausgabe zahlreich und nachhaltig bearbeitete Ver-sion http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1916/10/16-juniu.htm – Nick Brauns Lenin-Porträt in Nekrologform (»Die Ketten, die er angefeilt, zerreißt!« Vor 80 Jahren starb Wladimir Iljitsch Lenin; in: junge Welt, 21.1.2004) steht auf dessen Autorenseite http://www.nikolaus-brauns.de/Lenin.htm
2SPARTAKUSBRIEFE. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland. Mit einer Beilage: Faksimiledruck des Spartakusbriefes No.12 vom Oktober 1918. 1.-20. Tausend. Berlin: Dietz, 1959, XLIII/476 p.
3[Junius]
Richard Albrecht studierte in Kiel und Mannheim als Hochbegabtenstipendiat Sozialwissenschaf-ten von A bis Z (Anglistik, Philosophie, Politikwissenschaft, Sozialpsychologie, Soziologie, Zeitgeschichte), war im SDS ak-tiv und 1968 politischer Referent im AStA der Universität Mannheim (WH). Diplom 1971, Voluntariat 1972/73, Promotion 1976, Habilitation 1988/89. 1972/89 Lehrer, Dozent, Referent und in der empirischen Sozialforschung. Lebt seit seiner Beur-laubung als Privatdozent 1989 als unabhängiger Wissenschaftspublizist, Editor und Autor in Bad Münstereifel. Bisher letzte Buchveröffentlichung 2011: HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren. Bio-Bibliographie -> http://wissenschaftsakademie.net e-Postadresse -> eingreifendes.denken.@gmx.net
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