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25. Juli 2016

HEIDELBERG 1910 BIS 1933

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Ruperto Carola – Heidelberg Castle – Lange lieb ich Dich schon – Heidelberg, Du Schöne!

Soziologiegeschichtliches von Richard Albrecht

Vorzustellen ist ein zweites Heidelberg-Lesebuch.1 Das erste erschien vor 30 Jahren als alternatives Erinnerungsbuch2. Das neue hat diesen alternativen Anspruch eher nicht. Es liegt mit seinen 550 Gramm gut in der Hand, ist buchmacherisch gediegen gearbeitet und läßt sich mit der Deutschen Post als Maxibüchersendung für 1.65 € versenden.
Das neue Lesebuch enthält 32 meist befußnotete Porträts, gelegentlich auch weiterführende Literaturhinweise, von 29 Autor(inn)en, diverse meist suboptimimal schwarzweiß reproduzierte Personalfotos und Dokumente. Unter den Porträtierten sind 13, von denen ich bisher wenigstens einen Text las: Alfred Weber, Ernst Toller, Alfred Sohn-Rethel, Golo Mann, Karl Mannheim, Rosa Meyer-Leviné, Emil Lederer, Georg Lukács, Leo Löwenthal, Emil Julius Gumbel, Erich Fromm, Norbert Elias, Hilde Domin; zwei der Genannten lernte ich vor Jahrzehnten auf Autoren- und Wissenschaftlertagungen kennen; über neun weitere der hier Porträtierten veröffentlichte ich mindestens einen Text3: Hannah Arendt, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Jürgen Kuczynski (auch befragt als Zeitzeuge), Carlo Mierendorff, Gustav Radbruch, Anna Seghers, Sergej Tschachotin, Max Weber.
Auch wenn die große-Namen-Tendenz unverkennbar ist, so anerkenne ich, daß an den Nazikritiker, Philosophen und Nationalökonomen Alfred Sohn-Rethel (1899-1900) als damaligen Studie und späteren minor-stream scholar erinnert wird. Und wenn, ebenfalls auf der Ebene von Einzelnem veranschaulichbar, jeder Hinweis fehlt auf den Begründer der soziologischen Chicago-Schule4, Robert Ezra Park (1864-1944), der mit seiner Studie Masse und Publikum. Eine methodologische und soziologische Untersuchung 1903 in Heidelberg promoviert wurde, dann ist das formal wegen der Konzentration auf 1910-1933 in Ordnung – blendet gleichwohl historiographische Grundzusammenhänge des academicus heidelbergiensis im 20. Jahrhundert bis 1933 aus.
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Zunächst soll an Emil Lederer (*1882 Pilsen, †1939 New York) als böhmisch-austrischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Soziologen und Sozialisten erinnert werden. Er wirkte zwei Jahrzehnte lang, von 1911 bis 1931, in Heidelberg. Carlo Mierendorff (*1897, †1943), der 1923 von ihm mit einer Kritik der Wirtschaftspolitik der KPD zum Dr.phil. promoviert und 1930 SPD-Reichstagsabgeordneter wurde, nannte Lederer „einen der führenden Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie.“5
Lederer wirkte ab Herbst 1914 als verantwortlicher Redakteur des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. In der Zeitschrift ging es im Max Weberschen Sinn um interdisziplinäre und methodisch auf soziales Handeln von Menschen(gruppen) ausgerichtete Sozialwissenschaft. Im Archiv veröffentlichte Lederer seine Soziologie des Weltkrieges mit der These, der Weltkrieg suspendiere die Gesellschaft im Staat durch die gesellschaftliche Dominanz des Organisationsmodell des Heeres.6
Exemplarisch für Lederers so rege wie breite wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Publizistik seiner Heidelberger Zeit seien genannt: Der von ihm edierte Sammelband Soziologische Probleme der Gegenwart (Berlin 1921, 63 p.), die Neuauflage von Die sozialen Organisationen [1914] (Berlin-Leipzig 1922², 130 p.), seine Beiträge Aufgaben einer Kultursoziologie im zweiten Erinnerungsband für Max Weber (1923), Methodenstreit in der Soziologie (in Shakaigaku Zasshi [Zeitschrift für Soziologie] 1925, Probleme des deutschen Parlamentarismus (1930) — und die teilweise mit Jakob Marschak (*1898; †1977), den er 1922 promovierte, gemeinsam im Grundriss der Sozialökonomik 1926/27 veröffentlichten Aufsätze Der neue Mittelstand (Band IX/1: 121-142), Sozialversicherung (IX/2: 320-367), Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen (IX/2: 106-258) und Arbeiterschutz (IX/2: 259-319).
Dies und noch mehr ist im Beitrag über Emil Lederer von Alexandre Métrau (Emil Lederer, ein Heidelberger Anti-Mandarin: 165-169) ausgeblendet. Insofern handelt es sich um kein Porträt. Sondern um eine Marginalie, Miszelle, urkundliche Mitteilung als Kurzbeitrag auf knapp fünf Druckseiten ohne Anmerkungen und genaue Hinweise auf weiterführende Literatur, mit einem Personalphoto, einer Notiz Lederers und, als Novum, einem hier erstveröffentlichten Dokument von 1933 aus dem Universitätsarchiv Heidelberg, deren Mitarbeiterinnen gedankt wird: der Anfang August 1933 an Lederer versandten formalen Bestätigung von dessen Karriere und Funktionen als Hochschullehrer der Ruperto Carola 1912-1931. Die letztbeiden Sätze lauten: Mit Wirkung vom 1. April 1923 wurde er zum planmäßigen ordentliche Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Heidelberg ernannt. Mit Wirkung vom 1. November 1931 wurde er auf Ersuchen aus dem badischen Staatsdienst entlassen.
Amtslakonisch unerwähnt blieb: daß Lederer und Alfred Weber 1923-1931 als Direktoren das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften leiteten, daß Lederer 1931 auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen und daß er dort von den neuen Machthabern im April 1933 zunächst beurlaubt, später entlassen wurde.
Die urkundliche Mitteilung nennt die Exilstationen London und New York. Dort wurde er Hochschullehrer und der erste Dekan der Graduate Faculty der New School for Social Research. Und dort starb er achtundfünfzigjährig Ende Mai 1939.
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Alfred Sohn-Rethel (*1899 bei Paris, †1990 Bremen) ist ein längerer Beitrag von gut 11 p. mit zwei Personalphotos, dem erstveröffentlichten politischen Text Sozialistischer Bund sowie einer Ansichtskarte gewidmet (Carl Freytag, „Alle Gehalte des Marxismus heidelbergisch verfehlt …“ Der Philosoph und Nationalökonom Alfred Sohn-Rethel in Heidelberg: 321-332). Sohn-Rethel wurde 1928 von Lederer promoviert, konnte freilich zunächst keine Anstellung erhalten und kam schließlich 1931 durch personale Verbindungen in der Deutschen Gruppe des privatwirtschaftlichen Mitteleuropäischen Wirtschaftstags (MWT) in Berlin als wissenschaftliche Hilfskraft unter. Dort verblieb er bis zur Emigration nach England 1936, veröffentlichte anonym eine politiksoziologische Kritik der SPD in Form der (oft grundfalsch als Sozialfaschismustheorie bezeichneten) Grenzgängerthese: Diese wurde Jahrzehnte später in den 1970er Jahren von politischen Linken in der Alt-BRD publiziert, rezipiert und diskutiert.

Im 1973 ersterschienenen, philosophisch-methodologisch anspruchsvollen, sprachlich komplexen Buch Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus7 widersprach Sohn-Rethel der herkömmlichen Agententheorie zum Nationalsozialismus als faschistischer Bewegung in Deutschland. 1933 gelangte Hitler nicht als Förderer der stärksten Gruppen des Finanzkapitals an die Macht, eher vice versa: den faschistischen Nationalsozialismus beförderten finanziell schwächere finanzkapitalistische Gruppen.
Das Buch enthält einen damals kontrovers debattierten Beitrag des Autors8, die in den Deutschen Führerbriefen (September 1932) Soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus. Dieser sollte, so der Autor 1973, zur Stärkung militant-antifaschistischer Kräfte im allgemeinen und zur Unterstützung der KPD im besonderen beitragen. Der Autor bedient sich einer fingierten herrschaftlichen Sichtweise auf Krise und Krisenausweg: er schaut kataskopisch von oben nach unten. Im ersten Teil, Von der Sozialdemokratie zum Nationalsozialismus, geht es um die Entwicklung der Nachkriegszeit bis zum Höhepunkt ihrer Krise im Sommer 1932 mit deflationspolitischen Maßnahmen und Notverordnungen der Minderheitenregierungen seit der Reichskanzlerschaft Heinrich Brünings 1930, im zweiten um Die Eingliederung des Nationalsozialismus in einen sozial rekonsolidierten Kapitalismus.
Grenzgänger bürgerlicher Herrschaft in der ersten Phase der Nachkriegszeit war die SPD. Sie trug zur Bindung nichtbürgerlicher und proletarischer Schichten an bürgerliche Herrschaft bei. Das „über die Wirtschaft verfügende Bürgertum [ist] zu schmal geworden, um seine Herrschaft allein zu tragen.“ Dabei konnte sich die SPD, im Gegensatz zur NSDAP als Bewegungspartei, auf „die Macht der organisierten Arbeiterschaft, die soziale Macht der Gewerkschaften“ stützen.
Wird die erste, Ende 1930 beendete, Konsolidierungsphase von 1923/24 bis 1929/30 als sozialdemokratische Ummünzung der Revolution in Sozialpolitik gekennzeichnet und als eine ihrer notwendigen Bedingungen die „Spaltung der Arbeiterschaft“ genannt, so plädiert der Autor für die Aufhebung dieser durch revolutionäre Transformation. Lösten sich die Gewerkschaften von der SPD und gelänge deren „berufsständische Eingliederung unter nationalsozialistischer Führung“ in den bürgerlichen Staat – dann wäre dies eine Form der „Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft“: Dagegen stünde die „kommunistischen Revolution“. Einen dritten Weg gäbe es nicht. Nach seiner Kritik an Zwangsarbeit, Kommandowirtschaft und Re-Agraisierung plädiert Sohn-Rethel gesamtkapitalkompatibel für den Übergang zum „System wirklicher Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft, das sich nach wie vor auf den Kernbestand der Arbeiterschaft, die Gewerkschaften unter neuer Führung“ stützen müßte.
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Abgesehen von einleitend angesprochener Ahistorizität fehlen Hinweise auf den auch durch populäre Medien geförderten Mythos Heidelberg, der sich vermutlich, wie an einem anderen Regionalmythos belegt9, auch hier literarisch nachweisen ließe10.
Aus subjektiver Sicht fand ich zwei Porträtbeispiele – Tschachotin und Zuckmayer, über die ich in den 1980er und 1990er Jahren zeit-, politik-, und kulturgeschichtlich forschte und wissenschaftlich veröffentlichte11 – als Steigerung selektiver Wahrnehmung in Form selektiver Ignoranz. Angemessen und informativ hingegen empfand ich Walter Mühlhausens Mierendorffporträt (Der Kampf des Herrn Vielgeschrey um die Republik – Carlo Mierendorffs frühe Warnungen vor dem Nationalsozialismus: 261-275), in dem auch auf meine Forschungsarbeiten aus zwei Jahrzehnten verwiesen wird.12

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1)Intellektuelle in Heidelberg 1910-1933: Ein Lesebuch. Hg. Markus Bitterolf, Oliver Schlaudt, Stefan Schöbel. Heidelberg: Edition Schöbel, 2015, 428 p., ISBN 978-3-98116366-2-8
2)Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg. Hg. Karin Buselmeier, Dietrich Harth, Christian Jansen. Mannheim: Edition Quadrat, 1985, 512 p.
3)Auswahlbibliographie http://wissenschaftsakademie.net
4)https://de.wikipedia.org/wiki/Chicagoer_Schule_(Soziologie) https://en.wikipedia.org/wiki/Chicago_school_(sociology)
5)Neue Blätter für den Sozialismus, 1 (1930) 8: 347; zeitgenössische Nachrufe von Alvin Johnson in: Social Research, 6 (1939) 3: 313-315; Hans Staudinger, ibid, 7 (1940) 3: 337-358 (The Sociologist); Jakob Marschak, ibid, 8 (1941 1: 79-105 (The Economist); in der Alt-BRD erschienen: Emil Lederer, Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland. Hg. Jürgen Kocka. Göttingen 1979, 310 p.; ders., Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit. Eine Untersuchung der Hindernisse des ökonomischen Wachstums. Nachwort Robert A. Dickler, Frankfurt/M. 1981, 327 p. Emil Lederer, Zur Soziologie des Weltkrieges; in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 39 (1915) 3: 347-384; zur Imperialismustheorie ders., Von der Wissenschaft zur Utopie (Der Sozialismus und das Programm „Mitteleuropa“); in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 7 (1916): 364-411; zur sozialen Typik der Epoche der unselbständig Tätigen mit neuen Lebensperiodisierung ders., Zum sozialpsychologischen Habitus der Gegenwart; in Archiv für Sozialwissenschaft…, 46 (1918/19) 1: 114-139; wieder in: Lederer 1979: 14-33
7)Alfred Sohn-Rethel, Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus. Aufzeichnungen und Analysen. Herausgegeben und eingeleitet von Johannes Agnoli, Bernhard Blanke und Niels Kadritzke. Frankfurt/Main 1973, 209 p.
8)Zuerst wiederveröffentlicht im Kursbuch 21/1970: 17-35; Netzfassung http://www.druckversion.studien-von-zeitfragen.net/Sohn-Rethel%20Rekonsolidierung.htm
9)Richard Albrecht, ´Vater Rhein´: Über einen Fluß als Mythos; in: Kultursoziologie, 12 (2003) I: 125-132; erweiterte Netzversion 2012: http://www.poetenladen.de/richard-albrecht-rhein.php; besonders Mark Twains A Tramp Abroad (1880), Deutsch Bummel durch Europa, dürfte das Heidelbergbild nachhaltig beeinflußt haben: http://www.gutenberg.org/files/119/119-h/119-h.htm
10)https://de.wikipedia.org/wiki/Heidelberg_in_der_Dichtung
11)Richard Albrecht, Symbolkampf in Deutschland 1932; in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 22 (1986) 4: 498-533; ders., … daß Sie Ihre Tätigkeit einstellen müssen“: Die Entlassung Sergej Tschachotins 1933; in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 10 (1987) 2, S. 103-112; ders., Die Symbolwelt der Drei Pfeile; Émile, 1 (1988) 3: 148-179. — Richard Albrecht, Literarische Prominenz in der Weimarer Republik – Carl Zuckmayer; in: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft, 12 (1986) 2/3: 127–135; ders., Carl Zuckmayer im Exil, 1933–1946; in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 14 (1989) I: 165–202; ders., Carl Zuckmayers amerikanische Jahre. Aspekte der Erfolglosigkeit eines erfolgreichen Dramatikers in der Emigration; in: Communications, 20 (1995) 1: 112–128; ders., No Return – Carl Zuckmayers Exil. Aspekte einer neuen Biographie des deutschen Erfolgsdramatikers. Mainz 1995, 72 p.; ders., Hg., Facetten der internationalen Carl-Zuckmayer-Forschung. Beiträge zu Leben – Werk – Praxis. Mainz 1997, 136 p.
12)Richard Albrecht, Der „Fall“ Lenard-Mierendorff 1922; in Ruperto Carola, 38 (1986) 74: 107-114; ders., Der Rhetor Carlo Mierendorff; in: Diskussion Deutsch, 18 (1987) 96: 331-350; ders., Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943. Eine Biografie. Berlin-Bonn 1987, 464 p. (dokumentarfilmische Adaption 1997 von Alfred Jungraithmayr [*1933 †2016]: Deckname Dr. Friedrich: Carlo Mierendorff – ein Leben auf Zeit, Länge etwa 45´; (die „exzellente Werkbiografie des Historiker Karl Heinz Roth“ (20 p.) zu Jungraithmayrs Filmen – so Gerhard Hanloser [junge Welt; 2. Februar 2016: 11] – lag mir nicht vor); ders., Hg., Arisches Kaiserreich oder Judenrepublik von Carlo Mierendorff, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 40 (2004) 3: 321-337

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